Richard Didicher - 05.05.2019 - Fire, das Original

Vor mir sitzt ein alter müder Mann und sieht mich an mit kindlichen Augen. Sein Kopf ist schmal geworden, gemeißelt aus Carrara-Marmor, ein Blick, der sagt, es ist Zeit zum Abschied nehmen.

Doch dann bäumt sich in ihm etwas auf, das pralle Leben von einst, das Feuer, le feu, Fire - und er versucht über die Felder zu jagen wie damals, doch seine Kräfte sind begrenzt. Er aber ist glücklich, dass er dabei ist.

Er steht im Garten der Taube vor, ich lobe ihn und er ist zufrieden und wenn er ein Mensch wäre, würde er sagen: „Noch gehöre ich nicht zum alten Eisen!“

Wir erleben bei Hunden die Vergänglichkeit in ihrer brutalsten Form, wie wir sie bei Menschen leider so häufig im Zeitraffer erkennen.

Das ist der Welpe, der mir vom Rücksitz auf der Fahrt nach Frankreich den Hut vom Kopf klauen wollte, dieser unbändige vitale Tollpatsch, ich sehe ihn im Kies liegen und wohlig die Sonne anblinzeln.

Das ist der Halbstarke, der als Muskelpaket durch die Altgrasfelder der Camargue jagt und in seiner ganzen Schönheit im Ausstellungsring posiert, der Unbändige mit zu viel Temperament.

Das ist der große Sieger, dieses Gebilde voller Harmonie mit der Bewegung eines jungen Araberhengstes, der Jagdhund, der mit erhobenem Haupt über die Weizenfelder fliegt und dann am Fasan punktet.

Er, die Herausforderung für mich, ich die Herausforderung für ihn, so ließ es sich leben und es wurde keinem langweilig. Hineingeboren in das Jahr 2003 mit dem heißesten Sommer in Deutschland (seit 1540). Die Winzer waren die Nutznießer dieser großen Hitze. Sie ernteten einen Jahrhundertjahrgang.

Wir hatten einen Setter, wie er noch nie dagewesen, einen „grand cru classé“ mit Registriernummer aus erlesener Abstammung mit allen großen Ausstellungs-und Jagdhunden im Stammbaum.

Fire, der Rüde, den alle Hündinnen achteten und sich von ihm decken ließen, weil sie seine Männlichkeit anerkannten.

Das ist der Schützling meiner Frau, die ihm heute noch mehr Liebe entgegenbringt als je zuvor.

(Sie genießt das Privileg, Setter nur zu lieben und zu verwöhnen und mich zurechtzuweisen, wenn ich meine Rolle als Rudelführer zu eng sehe, oder mir der Kragen platzt, wenn die Meute ausrastet.)

Das ist aber auch der Lümmel, der eine Aluverpackung mit Fischgeruch verschlang und beim Tierarzt im Hof mit einer Spritze veranlasst wurde, alles wieder herauszuwürgen. Der Teufelskerl, der bei einer Ausstellung die Lederleine zerfetzte um eine Hündin zu beglücken.

In seinem besten Mannesalter durfte er auch einmal auf einem Ausstellungsgelände eine Hündin belegen, danach war das Thema Vorführen vorbei, er brüllte jedes Mal, wenn er ein Ausstellungsgelände betrat, weil die Erinnerung in ihm hoch kam. Testosteron pur. Für solche Hunde ist der Wesenstest kein Schreck, sie sind der Schreck für jeden Wesensrichter.

Jetzt sitzt er der alte Patriarch im Kreise seiner Töchter und Enkeltöchter, genießt morgens und abends eine volle Futterschüssel und rebelliert, wenn sich die Zeiten verschieben. Wenn er französischen Käse beim Abendessen in die Nase bekommt, simuliert er Atembeschwerden, bis seine Gönnerin sich seiner erbarmt und etwas von ihrem Teller abgibt.

Seine Söhne sind ihm nicht ganz geheuer, da sie über sein Temperament verfügen und es gibt eben nur eine feurige Sonne.

Er liegt in der Frühlingsonne im Sand am Meer, meine Frau ist bei ihm, sie hat Tränen in den Augen, als ich vom Baden mit der nassen Meute ankomme. Ich versuche ruhig zu bleiben. „Alter steh auf“ sage ich mehr aus Ratlosigkeit, er aber hebt den Kopf, richtet sich auf und wir gehen langsam zum Auto.

Zu Hause angekommen fordert er schon wieder lautstark seine Futterschüssel. Noch einmal gut gegangen und deshalb auch Teil dieser Geschichte.

Das unabdingbare, erbarmungslose Ende –die Franzosen sagen: „ Il est parti“ (er ist gegangen)- wird verschlossen bleiben in meinem tiefsten Inneren, da nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Doch noch ist es nicht so weit. Ich hoffe, bis dahin wird es noch viel französischer Käse in seine Futterschüssel regnen!

P.S.: Ein Jahr nachdem ich diese Geschichte schrieb, ist auch er gegangen, still und leise, meine Hand auf seinen Augen.