Richard Didicher - 05.04.2019 - Murielle und Marco, Sanftmut und Stolz

Sie wurden in das unruhige Jahr 1995 hineingeboren: Bosnienkrieg, Massaker von Sebrenica, Ermordung von Rabin.

Unser Alltag war gut durchstrukturiert: Schule, Kinder und Hunde.

Mit unserem englischen Importrüden Frederik wollten wir der Setterwelt zu neuem Glanz verhelfen und da kamen uns Murielle und Marco gerade recht. Beide mit ausgezeichneten Hüften, beide schön und beide in unserem direkten Umfeld. Murielle bei Olga , einer Nachbarin und Hundemutter, und Marco bei unserem Freund Wolfgang.

Sie war die Blume, zart und zerbrechlich, eine der schönen Töchter von Frederik. Sie war geboren um Liebe zu geben. Ihr trauriger Blick mit ihren sanften Augen wird mir ewig in Erinnerung bleiben, ein Hund als Einzelhund geschaffen und unglücklich im Trubel des züchterischen Alltags.

Es ist erschreckend, wie wenig manchmal bleibt von einem Geschöpf, das zu gut war für diese Welt: Erinnerungen und persönliche Augenblicke, das ist alles.

Ausstellungen waren nicht ihre Sache, sie fühlte sich sichtlich unwohl in diesen überfüllten Hallen voller Menschen und kläffender Hunde. Nachdem ihr eine hektische wohlgenährte Dame tollpatschig im Eingangsbereich einer Halle auf die Pfoten trat, war es vorbei. Sie ließ deutlich erkennen, dass man sie von derartigen Veranstaltungen verschonen möge.

Und dennoch wird sie in der der Setterwelt durch ihre Söhne Vito und Vanja, zwei stolze Draufgänger, und ihre Tochter Amy, ein Hund, der vom Aussehen und Wesen einmalig war, weiterleben.

Ganz anders war Marco gestrickt. Er liebte die Öffentlichkeit, den Rummel und die Show. Er war selbstbewusst wie sein Besitzer Wolfgang, ein stilvoller Hotelier, ein Herr mit ausgezeichneten Manieren und gutem Geschmack und dies nicht nur was Setter betrifft, obwohl er sich dieser Rasse verschrieben hatte. Vor Marco gab es bereits zwei Setterboys, die sich bis ins hohe Alter von Wolfgang pflegen ließen, einer davon, Ajax, stammte aus dem ersten Wurf meiner Bianca.

Ausstellungen waren ein Event für Marco, Wolfgang und für mich. Wenn ich mit Marco im Ring stand, war Wolfgang nicht weit. Stress ließ sich am besten mit Campari ertragen oder mit Espresso und so bediente mich der alte Charmeur mit seinen Lieblingsgetränken, um mir die Zeit bis zu den Platzierungen erträglich zu machen. Ging Marco als Sieger aus dem Ring, was nicht selten der Fall war, wurde der Abend zum Fest. Für Marco gab es, wie an jedem Abend, trotz aller Proteste meinerseits eine Tafel Milka Vollmilch-Schokolade, das musste sein, da bestand er darauf.

Es war die Zeit, als die Weihnachtsfeiern im alten ehrwürdigen Hotel „Ritter“ in Neckargemünd im Fürstensaal in gepflegter Atmosphäre zelebriert wurden, die Menschen zueinander freundlich waren und die Setter ihre Position im großen Rudel kannten.

Kein Hass, keine Heuchelei, keine falschen Taschenspielertricks auf Kosten der Allgemeinheit, eher Geben als Nehmen.

Ich sehe sie vor mir, die alten Kerle- und es gab einige wie Wolfgang- mit ihren Settern an der Leine, keine großen Aussteller, keine illustren Hundeführer, aber wahre ehrliche Menschen.

Doch manchmal kann das Leben grausam sein. Ein Brand, der das Hotel verwüstete, sein großes Herz und seine Vorliebe zum schönen Geschlecht wurden Wolfgang zum Verhängnis. Er fiel tief und er verzweifelte an seinem Schicksal. Plötzlich hatte er nur noch Marco, ein alter Herr und sein alter Hund zogen durch die Straßen von Neckargemünd und abends saßen sie im besten Restaurant des Ortes, ein gepflegter Herr mit einem Campari und ein ergrauter edler Setter mit einer Schüssel Filetreste, denn angeblich mochte er kein anderes Fleisch. Und irgendwann verschwanden beide und waren nicht mehr gesehen.

Uns blieben nur die Vorwürfe, nicht genug getan zu haben.

Und dennoch, wenn ich unsere Bisou sehe und sie mal ihre weiche Seite hervorkehrt, sehe ich die braunen Augen ihrer Ur-Urgroßmutter Murielle und bei unserer kleinen Jela kann ich, wenn ich will, ihren stolzen Urgroßvater Marco erkennen, der genau wie sie eigenwillig und stolz im Feld seine Runden drehte.

Vielleicht ist dies die einzige Legitimation züchterisch tätig gewesen zu sein:

Die Kontinuität dieser edlen Geschöpfe.

Und anders als im antiken Tantalusgeschlecht, wo man in den Enkeln die Sünden der Väter wieder erkennen kann, ist es bei unseren Hunden.

Wenn man über das Glück verfügt, auf eine ununterbrochene Zuchtlinie einiger Jahrzehnte zurückzublicken,

lebt das große sanfte urwüchsige Erbe in den Enkeln und Urenkeln weiter.