10.08..2019

Richard Didicher: Zwei Setter auf der Suche nach den Kinderhänden  (Teil 3)

Fortsetzung

Wochen später, auf einer Fähre von Dover nach Calais, standen auf dem gleichen Deck in unmittelbarer Nachbarschaft ein weißer Lieferwagen mit einem Setterkopf als Aufkleber und ein PKW mit dem gleichen Emblem, dazu noch reichlich bunte Werbung.

Aus dem Lieferwagen stieg ein gutgelaunter Mann. Sein Trachtenjanker verriet, dass er gerne den Naturburschen zur Schau stellte. Als er den Mann aus dem anderen Fahrzeug erkannte, schien er sich zu freuen. „ So wie ich dich kenne, Hüpfer, warst du auf Einkaufstour“, rief er spöttisch.

„Stimmt, Grunz“, erwiderte der Trachtenmann. Aber ich komme von der Grünen Insel und habe ein erstklassiges Produkt erworben. Er zog Charlie aus dem Lieferwagen. „Allererste Sahne“, protzte er. „ Der alte irische Geizkragen wollte mir auch die zehnjährige Mutter aufschwatzen, als ich ablehnte, hat er sie nach Australien verkauft. „Die Kerle sind hart im Nehmen, ich habe nach England übergesetzt und mir hier noch etwas angesehen, leider zu viele weiße Flecken und jetzt lebt der Kleine schon seit einer Woche in meiner Karre.

Charlie schnupperte ängstlich an der Hand seines neuen Besitzers. Das war nicht der warme Duft, den er von Bridget kannte. Der Geruch von Schweiß und Rauch erschreckte ihn, so dass er laut winselte.

Der andere sah spöttisch auf Charlie. „Nicht gerade für den Ausstellungsring“, lästerte er. „Dafür aber aus einem alten irischen Jagdhundeschlag“ , erwiderte der Naturbursche.

Stolz präsentierte der zweite Mann, nachdem er seine hellen Locken aus der Stirn gestrichen und seinen bunten Schal zurechtgezupft hatte, seinen Einkauf.

Lovebird war ein wohlgenährter Welpe von stattlicher Größe mit dunklen Augen und einem sorgenvollen Gesicht. „Ein Weltsieger“ protzte er stolz. „Alles perfekt, sieh dir die Zähne an“. Er öffnete mit seinen parfümierten Fingern den Fang des kleinen Hundes.

Auch Lovebird schreckte zurück. Am Morgen noch hatte er an Rachels Finger gelutscht, als sie mit ihm spielte, bevor sie ahnungslos zur Schule ging. Er verstand die Welt nicht mehr.

„Lass uns die Kleinen für die Überfahrt im Lieferwagen verstauen. Da können sie nicht weg und wir können uns an der Bar ein Bier gönnen. So vergeht die Zeit schneller.“

Der andere fand die Idee gut und so verstauten sie die Welpen im dunklen, kalten Fahrzeug und machten sich auf zum Oberdeck.

Die beiden Welpen kuschelten sich aneinander, ohne sich richtig zu sehen. Nach kurzer Zeit ließ die Anspannung nach und die Angst wich der Müdigkeit. Sie schliefen beide ein, so als wären sie in ihrer vertrauten Umgebung von zu Hause.

Herr Hüpfer und Herr Grunz erzählten sich viele erfundene Geschichten von großen Jagdhunden und herrlichen „Schönheitskönigen“ und nach jedem Bier versuchte der eine den anderen mit seiner Prahlerei noch mehr zu übertrumpfen.

Am gleichen Abend weinten ein englisches und ein irisches Mädchen bitterlich.

Bei der Ankunft in Calais wurden die beiden Welpen aus dem Schlaf gerissen und Lovebird fand sich in der kalten Box im Kofferraum des anderen Fahrzeugs wieder. Die Decke, die er am Vortag aus Angst durchnässte, hatte niemand gewechselt.

Bevor man sie trennte, drückte sich der kleine drahtige Ire an den wohlgenährten Engländer, so als wollte er ihm sagen: „Lass uns zusammen bleiben.“

Am nächsten Abend wurde Lovebird in einem deutschen Wohnzimmer von einer Schar neugieriger Menschen bestaunt. Auch ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft war darunter. Als sie Lovebird sanft über den Rücken strich, verspürte er etwas wie ein Glücksgefühl. Seine Rute bewegte sich leicht, so als wollte er wedeln.

Die Menschen bestaunten den zukünftigen Sieger, doch die Neugierde war bald vorbei und Lovebird fand sich in einem Zwinger mit zwei halbwüchsigen Rüden wieder.

Diese beschnupperten ihn zuerst neugierig und freuten sich darüber, dass durch dieses neue „Spielzeug“ endlich Abwechslung in ihr Leben gekommen war. In den folgenden Tagen setzten sie dem Kleinen richtig zu, doch Lovebird lernte schnell sich zu wehren. Er setzte seine kleinen Michzähnchen ein und biss um sich. Das beeindruckte die beiden Halbstarken, sie ließen von ihm ab. Er verzog sich in eine Schlafbox, wo er seine Ruhe hatte. Hier verbrachte er die meiste Zeit.

Menschen bekam er nur zu Gesicht, wenn sie die Futternäpfe füllten oder den Zwinger reinigten oder, was für ihn noch schlimmer war, wenn sie ihn auf einen Tisch stellten, wo er regungslos verharren musste und sie ihn abtasteten, an seinen Hoden herumfummelten oder seine Zähne begutachteten. Menschenhände, die für ihn einst Zuneigung bedeuteten, wurden jetzt zur Tortur.

Dennoch wagte er es nicht zu knurren. So tief sitzt die Zuneigung dieser edlen Geschöpfe zur Spezies Mensch. Dieser kann sie misshandeln und sie achten ihn trotzdem. Es gibt nur wenige, die sich in äußerster Not vergessen und wehren.

Seine Erinnerungen an Rachel verblassten so langsam und auch Charlie hatte er wahrscheinlich längst vergessen.

Dieser lebte jetzt auf einem heruntergekommenen Grundstück, das ursprünglich ein Schulhof war und von seinem neuen Besitzer in eine Zwingeranlage umfunktioniert wurde. Seine Schlafstätte war die ehemalige Jungentoilette, die den strengen Geruch ihrer ursprünglichen Bestimmung beibehielt. Scheinbar hatte man sich keine große Mühe gemacht, diesen zu beseitigen.

Er wurde zum Einzelgänger. Er jagte Amseln und Mäuse, um sich die Zeit zu vertreiben. Aus Langeweile ärgerte er schon mal durch die Gitterstäbe einen der Welpen, die sich in den Zwingeranlagen befanden. Er liebte diese Einsamkeit. Menschen bekam er nur zu Gesicht, wenn Welpenkäufer das Grundstück betraten oder wenn ein schweigsamer hagerer Mann die Futternäpfe füllte.

Einmal kam eine Familie mit zwei Mädchen. Das kleinere der beiden stürmte auf Charlie zu und strich ihm sanft über den Kopf. Der Duft der Kinderhand weckte Erinnerungen an Bridget und er begann zu winseln.

Die Mutter der beiden Kinder war von Charlie nicht besonders angetan. Sie zog die Kleine weg:

„Guck dir lieber die niedlichen Welpen an, dieser hagere Kerl kommt für uns nicht in Frage“.

Charlie war wirklich keine Schönheit. Sein Haar war immer noch das eines Welpen und sein drahtiger Körperbau erinnerte doch stark daran, dass wahrscheinlich der alte Pointer, der auch auf dem irischen Landsitz lebte und der von Zeit zu Zeit Mr. McDonnel zur Jagd auf Moorhühner begleiten durfte, sein Vater war. Doch das alles war Charlie egal.

Fortsetzung hier am nächsten Wochenende.

Nächste Folge bereits heute unter: https://tieremenschengeschichten.de.tl