12.10.2019

Richard Didicher: Zwei Setter auf der Suche nach den Kinderhänden  

Am späten Abend hielt der Transporter auf dem Parkplatz einer Gaststätte in der Nähe von Arles in Südfrankreich.

Die Hitze im Inneren des Fahrzeuges war unerträglich. Endlich öffnete der Helfer die beiden Flügeltüren und führte die Hunde an der Leine einzeln auf eine angrenzende vertrocknete Wiese am Rande eines Reisfeldes zum Lösen.

Lovebird und Charlie waren die letzten und er zog sie beide zusammen aus ihrer Box, er wollte endlich seine Arbeit beenden. Der Gummistiefelmann saß bereits mit einem Glas Rotwein auf der Terrasse der Gaststätte und flirtete mit der Bedienung.

Charlie reckte seine feine Nase in den heißen Wind, der ihnen kräftig entgegenwehte, und sog die vielen fremden Düfte auf.

Lovebird, der zwar total erschöpft war und der sich an seinen Freund drückte, merkte aber, dass Charlie hellwach war, sein Herz pochte, seine Muskeln spannten sich, diese fremde Welt hatte es ihm angetan.

Auch der Helfer merkte Charlies Regungen und er überprüfte die Funktion des Elektohalsbandes, indem er auf den Auslöser drückte. Charlie schrie auf, der Helfer lachte, doch nur für einen Augenblick, denn blitzschnell sprang Charlie wütend an ihm hoch und verbiss sich in seiner Jacke. Der Helfer verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden.

Charlie war nicht mehr bereit, all diese Demütigungen und Misshandlungen hinzunehmen.

Der Gummistiefelmann beobachtete von der Terrasse den Vorfall, eilte herbei und zog Charlie weg von seinem Helfer. Dieser brüllte, dass er Charlie erschießen werde und den Großen gleich mit.

Sein Chef, der scheinbar nicht aus Ruhe zu bringen war, erwiderte lachend:

„Das wirst du bleiben lassen, du hast ihn herausgefordert. Ich habe mit seinem Besitzer einen Vertrag und dieser hat Vorkasse geleistet, also beruhige dich und sei vorsichtig mit diesem Teufelskerl“.

Er brachte Charlie und Lovebird selbst in den Transporter, knallte die Tür der Box zu und raunte Charlie im Weggehen an: „Sei vorsichtig, ein zweites Mal lasse ich das nicht durchgehen, ich verpasse dir dann eine Kugel.“

Er ließ die eine Flügeltür des Fahrzeugs offen, da diese Hitze im Innern unerträglich war und er seine „wertvolle Fracht“ in einem Monat wieder an ihre Besitzer aushändigen wollte. Dann ging er schnell wieder in Richtung Terrasse, denn die junge Kellnerin hatte es ihm angetan.

Diese höllischen Schmerzen, die das Elektrohalsband an seinem Hals verursacht hatte, ließen Charlie auch in der Box nicht zur Ruhe kommen. Lovebird kauerte in einer Ecke und sah hilflos zu, wie sein Freund versuchte sich abzureagieren. Dieser drehte sich unentwegt in dem engen Käfig, scharrte mit seinen Pfoten das Stroh von einer Ecke zur anderen, um das Brennen an seinem Hals los zu werden.

Und plötzlich, als bei seinen Bewegungen zufällig an die Käfigtür stieß, öffnete sich diese.

Verblüfft hielt er inne und sah zu Lovebird, der auch sofort registrierte, dass die offene Hintertür eine einmalige Chance war.

Fast gleichzeitig stürmten beide hinaus. Die Futterbehälter, die herumstanden, wurden durch die Gegend geschleudert, ein Wasserkanister fiel um, die zwei Englishsetter jaulten vor Schreck auf.

Charlie und Lovebird stürmten in die erneut gewonnene Freiheit, die sich so gut anfühlte, obwohl sie heiß und trocken war.

Und wieder rannten und rannten sie. Das Wasser, das noch in den Reisfeldern stand, war eine willkommene Kühlung. Sie überquerten eine kleine Straße, wateten durch einen halb ausgetrockneten Bach, bis sie einen großen undurchdringlichen Schilfgürtel erreichten und sich auf einer kleinen, trockenen Insel niederließen.

Hier waren sie sicher, hier würde sie niemand finden.

Die beiden Männer hatten von dem Tumult im Transporter nichts mitbekommen. Der Stiefelmann war mit seiner Kellnerin beschäftigt und der Gehilfe betrank sich. Er hatte es immer noch nicht überwunden, dass ihm Charlie die Jacke zerfetzt hatte. Ihm ging nur ein Gedanke durch den Kopf:

„Den werde ich mir morgen vorknöpfen, der wird sein blaues Wunder erleben!“

Als sie am Morgen beide noch etwas verschlafen mit dröhnendem Kopf zum Transporter kamen, hatten sie ihr „Wunder“.

Der Helfer brüllte los und griff nach seiner Flinte:

„Ich erschieße sie beide, ich werde sie finden und dann gibt es keine Gnade!“

Der Stiefelmann blieb ruhig und er pfiff seinen Helfer zurück: „Der Kleine ist intelligenter als du. Die sind jetzt über alle Berge. Es war meine Schuld, ich hätte die Flügeltüren verschließen sollen, dann säßen sie jetzt in der Falle. Der dämliche Grunz, der in Spanien zu uns stoßen sollte, wird am Flughafen von Valencia ganz schön staunen, wenn sein Köter mal wieder ausgebüxt ist. Gut, dass ich für solche Fälle einen schlauen Passus im Vertrag habe. Und jetzt lass uns losfahren. Pinkelpause für die „Knastbrüder“ gibt es später.“

Der Transporter setzte sich in Bewegung Richtung Spanien und Charlie und Lovebird blinzelten aus ihrem Versteck der aufgehenden Sonne zu.

Fortsetzung folgt.