19.10.2019

Richard Didicher: Zwei Setter auf der Suche nach den Kinderhänden  

Die beiden waren vom hellen Licht des Südens regelrecht geblendet.

Sie schliefen bis zum Abend. Der Tag war zu heiß, um weiter zu ziehen. Als es kühler wurde, brachen sie auf und staunten ganz schön, als sie nach wenigen hundert Metern an eine Wiese gelangten, die übersät war von grasenden Kaninchen.

Doch diese heile Welt hatte auch ihre Schattenseiten. Am Rande der Wiese hoppelten einige kleine Häschen wirr durch die Gegend. Sie waren fast erblindet und suchten verzweifelt nach Wasser. Sie litten unter einer furchtbaren Krankheit, von Menschen „geschaffen“, um die Wildpopulation in Australien zu dezimieren und die in Europa zum gleichen Zweck bewusst eingeführt wurde. Die Hybris des Menschen, über die Natur zu bestimmen, kennt keine Grenzen. Charlie und Lovebird aber waren hungrig und sie griffen zu. Natürlich wussten sie nicht, dass sie dadurch das Leid der totgeweihten Tiere beendeten.

In Windeseile flüchteten die noch gesunden Tierchen in ihren Bau und die beiden Freunde zogen weiter.

Aus der Ferne sahen sie die hohen Mauern einer beleuchteten Stadt mit einem hohen Turm und instinktiv machten sie einen Bogen um diese. Sie liefen die ganze Nacht durch. Wenn sie an Straßen kamen, warteten sie geduldig, bis die Lichtkegel der Scheinwerfer nicht mehr zu sehen waren, dann überquerten sie die Fahrbahn. Zwischendurch legten sie eine Rast ein, um sich zu erfrischen. Die Landschaft war mit zahlreichen Seen bestückt, so dass es Wasser in Hülle und Fülle gab.

Gegen Morgen erreichten sie eine Anhöhe mit Weinbergen und einem Gebäude mit dicken alten Mauern. Wären sie Menschen gewesen, hätten sie gewusst, dass sie sich in einem alten Klosterhof befanden.

Es war eine herrliche Welt, friedlich und fast unberührt. Schwarze Weintrauben schimmerten durch die dunkelgrünen Blätter der Reben. Wildkräuter wuchsen hier ungebremst und der Duft ihrer Blüten war betörend.

Zwischen den Weinstöcken tummelten sich Rothühner und Charlie war aus dem „Häuschen“. Aber jedes Mal, wenn er sich an sie heranschlich und zum Sprung ansetzte, verfiel Lovebird in ein dumpfes Jaulen und die Hühnchen flatterten davon. Dass er durch seine Warnungen Charlie zur Weißglut brachte, war ihm egal. Diese kleinen herrlichen Geschöpfe hatten es ihm angetan.

Als die Sonne so richtig aufging, fielen ihre Strahlen auf das grünliche Meer, das den unteren Teil des Hügels eingrenzte und sie ließen es herrlich leuchten.

Die beiden waren neugierig und stürzten sich in die Fluten. Sie wollten endlich den beißenden Geruch, den es überall in dem Transporter gab und der sich in ihrem Fell festgesetzt hatte, loswerden.

Der Geschmack des Wassers war für die beiden ungewohnt, denn es schmeckte nach Salz.

Sie staunten nicht schlecht, als ihnen eine hohe Welle entgegenkam. Diese heranrollende Wassermasse versetzte Lovebird in Schrecken und er rannte zum Ufer.

Hier saß ein kleines Mädchen, sie lachte laut und rief ihnen in einer fremden Sprache etwas zu. Wahrscheinlich amüsierte sie sich über den wasserscheuen Setter. Sie strich ihm sanft über die Stirn und zog ihn zu sich in den Sand, der mit grünen und braunen Steinen „gepflastert“ war.

Charlie eilte herbei und schmiegte sich von der anderen Seite an das Kind.

„Gut, dass ich zwei Hände habe“, muss sie wohl gesagt haben. Sie zog mit ihren kleinen warmen Kinderhänden die beiden an sich heran.

Charlie hatte die Lider halb geschlossen, Lovebird sah mit seinen großen Kulleraugen voller Ehrfurcht das Mädchen an. Aus Angst, dass der Traum zu Ende sein könnte, wagten beide nicht, sich zu bewegen.

Eine junge Frau kam auf die drei zu. Sie schien von dem Bild nicht überrascht zu sein.

„Hast du wieder Schützlinge entdeckt, um die du dich kümmern musst? Dein Vater wird mal wieder staunen, aber er kann dir ja keinen Wunsch abschlagen. Also los lasst uns gehen.“ sagte sie zu ihrer Tochter Fleur, die der Vater liebevoll so nannte, weil sie angeblich so schön wie eine Blume war.

Der Vater des Mädchens war der Pächter des kleinen Restaurants am südlichen Teil der Klostermauer.

Er und seine Familie lebten in dem Anbau, der im Mittelalter die Schlafstätte der Pilgermönche war.

Er sah von oben die sonderbare Gruppe auf sein Lokal zusteuern und er rief seiner Tochter zu:

„Mon Dieu, Fleur, was bringst du mir da, wir haben doch schon den verletzten Reiher, das kleine Entenküken und die kranke Möwe in unserem kleinen Garten. Du weißt doch, dass hier im Naturschutzgebiet Hunde nicht erlaubt sind.“

Fleur drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und „flötete“:

„Lass das meine Sorge sein, wir haben Schulferien, ich habe viel Zeit, ich werde die beiden verstecken, wenn Gäste im Restaurant sind. Du sagst doch immer, dass Gesetze da sind, damit sie umgangen werden. Lass mich nur machen. Und jetzt rück etwas Essbares heraus, die beiden haben bestimmt Hunger.“

Der Vater konnte sich gegen alle durchsetzen, sogar gegen den „borstigen“ Abt des Klosters. Gegen seine Tochter hatte er keine Chance. Also ging er in die Küche und kam mit einem Brot und Käseresten zurück.

Es folgten herrliche Tage.

Morgens streunten die beiden Hunde mit Fleur durch die Weinberge oder sie sahen durch den Zaun den Pfauen im Klostergarten zu, wie sie angeberisch ihre Schwanzfedern zu einem Rad aufstülpten und dabei schrille Laute von sich gaben. Mittags sah man die beiden mit Fleur am Meer. Wenn ihre Gönnerin nur einen Fuß ins Wasser setzte, folgten ihre Blicke unentwegt dem Mädchen und auch der wenig mutige Lovebird hätte sich „todesmutig“ in die Wellen gestürzt, wenn Fleur Gefahr gedroht hätte.

Abends, wenn die Gäste aus der nahen Großstadt kamen, brachte Fleur die beiden in den Garten der Gaststätte.

Die Freude der anderen Gartenbewohner, die Fleur aufgenommen hatte, hielt sich in Grenzen. Man ging sich aus dem Weg. Lediglich der alte Reiher hakte gelegentlich mit seinen spitzen Schnabel nach ihnen. Wenn die letzten Besucher die Gaststätte verlassen hatten, öffnete Fleurs Vater das Gartentor und entließ die beiden in die Freiheit.

Diese waren zufrieden und dankbar. Immer, wenn sie in ihrem Leben von kaltherzigen Menschen misshandelt und gedemütigt wurden, fanden sich warme Kinderhände - die von Rachel, Bridget, Hella und jetzt Fleur- die ihnen sanft über den Kopf strichen und alles war vergessen.