27.10.2019

Richard Didicher: Zwei Setter auf der Suche nach den Kinderhänden  

Sie tauchten wieder ein in ein Leben, das von Geborgenheit und viel Freiheit geprägt war.

Tagsüber folgten sie Fleur auf Schritt und Tritt. Die Eltern amüsierten sich über die „Leibwächter“ ihrer Tochter. Insgeheim waren sie aber zufrieden, wenn Fleur nicht allein durch die wilde Landschaft strich. Sie war nämlich eine kleine Einzelgängerin und kannte jeden Baum und jeden Vogel des Anwesens rings um das Kloster.

Als der Vater seine Tochter mal wieder zu Gesicht bekam, erinnerte er sie daran, dass am folgenden Wochenende in der Kleinstadt am Fuße des Klosters das Fest der Reiter und der Stiere stattfand. Fleur bestand darauf, ihre beiden Begleiter mitzunehmen.

Das störte den Vater wenig, denn das Fest wurde auf der Wiese mit einem Frühstück vor dem Stiertreiben eingeleitet und hier gab es neben den zahlreichen Menschen auch eine Vielzahl von Hunden, die mit den Kindern herumtollten.

„Alles andere wird sich ergeben“, meinte der Vater, denn er war froh, seine Familie dabei haben.

Als sie am folgenden Sonntag auf der Wiese ankamen, waren Charlie und Lovebird begeistert.

Der Duft von Bratwurst und Grillfleisch verfing sich in ihren Nasen. Das war auch für die beiden zu dieser Stunde etwas ungewöhnlich, aber es roch verführerisch und Charlie äugte schon nach einem unbewachten Grill, um ihn abzuräumen. Fleur schien seine Gedanken zu erraten und nahm ihn an die Leine.

„Du wirst noch genug abbekommen“, meinte sie nur, zog die beiden weiter und sie präsentierte sie stolz ihren Freundinnen. Diese überhäuften Lovebird und Charlie mit ihren Streicheleinheiten.

So viel Kinderhände, das hätten die beiden sich niemals träumen lassen. Sie genossen den Morgen in vollen Zügen. Die anderen herumtollenden Hunde waren vergessen, ja sogar die Würste waren jetzt für Charlie nebensächlich.

Unweit der Wiese graste auf einer eingezäunten Fläche friedlich eine Herde schwarzer Stiere. Charlie waren sie nicht geheuer, besonders einen alten Haudegen, der im Kampf bereits ein Horn eingebüßt haben musste, beobachtete er argwöhnisch.

Instinktiv merkte er, dass von dem schwarzen Koloss Gefahr ausgehen könnte, dann müsste er Fleur beschützen und er würde es tun.

Lovebird ergötzte sich am Spiel der Reiter mit ihren schneeweißen Pferden, die sich zum Spaß mal ein kurzes Rennen lieferten und besonders eine junge Amazone hatte es ihm angetan, da sie ihn unentwegt musterte. Wahrscheinlich stellte sie sich ihn als Reitbegleiter vor. Seine schlanke Gestalt und sein seidiges langes Haar hatten es ihr „angetan“. Er war stolz über diese Aufmerksamkeit und trabte einige Augenblicke neben ihr her, um dann aber schnell wieder zu Fleur zurückzukehren. Schließlich wusste er, wo er hingehörte.

Fleur, die mit einem Auge seinen „Flirt“ beobachtete, verzieh ihm großzügig, was man von Charlie nicht behaupten kann, er ignorierte seinen Freund buchstäblich , indem er sich von ihm abwandte und noch konzentrierter den einhörnigen Bullen fixierte.

Als das Wiesenfrühstück dem Ende entgegenging und die übrig gebliebenen Stierwürste an die Hunde verteilt waren, war auch Charlie wieder gelassener. Mit vollem Magen wirken Gefahren kleiner, letztendlich hatte er Fleur ja auch alleine gründlich beschützt und schließlich war Lovebird ja sein Freund. Versöhnt brachen alle auf, nachdem die Reiter sich sieben der Stiere aus der Herde gegriffen hatten und sie in vollem Galopp Richtung Stadt trieben. Vergnügt stellte Charlie fest, dass der Einhörnige auch unter den ausgesuchten war. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte er bestimmt Genugtuung empfunden, dass es seinem vermeintlichen Feind an den Kragen ging. Er konnte ja auch nicht wissen, dass hier in der Arena die Stierkämpfe ein unblutiges Spiel waren und die Stiere gefeiert wurden und nicht die hochnäsigen Toreros.

Unter Fanfarenklänge wurden einige Stiere in die Arena getrieben. Halbstarke sportliche Jungs in Weiß gekleidet versuchten den wilden Burschen Rosetten von den Hörnern zu pflücken, was die schlechtgelaunten schwarzen Temperamentsbolzen nicht einfach so akzeptierten. Sie schlugen die Jünglinge in die Flucht, die sich in letzter Not durch einen Sprung auf die Balustrade retteten.

Charlies einhörnigem „Freund“ ging das Spektakel ganz besonders auf die Nerven. Er jagte wild fauchend durch die Arena und scharrte anriffslustig im Sand, der bis auf die Zuschauerränge flog. Die weißen Knaben nahmen sich vor ihm in Acht.

Fleur hatte bald genug von der Vorführung. Sie drängte zum Aufbruch als sie merkte, dass Charlie und Lovebird, die sich, da es sehr eng war, unter die Sitze verzogen hatten, immer wieder versehentlich von Menschen getreten wurden.

Der Nachmittag, den sie in der Stadt verbrachten, war auch nicht besonders amüsant. Menschenmengen schlängelten sich durch die engen Straßen, manche waren leicht angetrunken, andere sangen laut, um auf sich aufmerksam zu machen.

Als Fleurs Vater endlich einen Tisch in einem Eiscafe ergattert hatte, für Fleur einen großen bunten Eisbecher und eine Schüssel mit Wasser für die beiden Freunde brachte, waren alle froh, dem Treiben entwichen zu sein.

Doch der Friede hielt nicht lange. Eine ältere Dame stellte diskret ihren Eisbecher zu Boden und ihr elegant geschorener Pudel war dabei, diesen auszuschlecken. Der flinke Dackel der gegenüberliegenden Gaststätte war blind vor Wut über diese ungeheuerliche Bevorzugung des weißen Schnösels. Wie oft hat er sich schon einen Becher echtes Vanilleeis gewünscht. Er schoss heran, um dem Pudel das Eis streitig zu machen. Beide kläfften „was das Zeug hielt“. Lovebird amüsierte sich, doch für Charlie war das zu viel. Er richtete sich auf und knurrte richtig los. Die beiden Kontrahenten waren vor Schreck wie gelähmt und gaben auf.

„Lass uns aufbrechen, die Stadt ist nichts für die beiden und für mich auch nicht. Wir sind lieber in den grünen Weinbergen, weit weg von dieser lauten Welt“, sagte Fleur. Ihre Eltern hatten auch genug, also fuhren sie zurück und genossen noch den Sonnenuntergang am Meer.

Langsam senkte sich die Sonne wie ein roter Feuerball in das graublaue Meer und überall war Ruhe und Friede.