03.11.2019

Richard Didicher: Zwei Setter auf der Suche nach den Kinderhänden  

Die folgenden Wochen verliefen ruhig. Die beiden Freunde entspannten sich und genossen die Zuwendung von Fleur.

Wenn ihre Gönnerin aber mit ihrer Mutter unterwegs war, um Einkäufe für das Restaurant zu erledigen, verzogen sich Charlie und Lovebird unter eine alte Eiche am Fuße der Weinberge und dösten vor sich hin.

Wenn sich zufällig ein junges Rebhuhn in ihre Nähe wagte, gelang es Lovebird nur mit viel Nachdruck, Charlie zu beruhigen, denn dieser fühlte wieder das Blut seiner Ahnen in seinen Adern, er begann am ganzen Körper zu beben, seine Nüstern weiteten sich und er fing instinktiv an die Luft zu kauen.

Lovebird fand dieses ganze Getue scheinbar lächerlich und er begann sogar zu knurren, um das kleine Huhn zu verscheuchen. Ob er wusste, dass er ihm damit das Leben rettet?

Als Fleurs Vater aus der Stadt kam, brachte er eine Nachricht mit, die, wie er glaubte, seine Tochter erfreuen würde. Ihm fiel ein Plakat auf, auf dem in einem nicht allzu weit entfernten Schloss ein „Setterfest“ angekündigt wurde.

„Da müssen wir unbedingt hin, denn unter ihresgleichen werden sich Charlie und Lovebird bestimmt wohl fühlen“.

An dem besagten Tag machte sich die Familie mit ihren beiden Settern auf den Weg zum Schloss, das dreißig Kilometer entfernt in einer grünen Seenlandschaft lag.

Im Umfeld des Schlosses parkten zahlreiche Fahrzeuge, die auf eine rege Beteiligung schließen ließen.

Als sie den Schlosshof betraten, staunten Fleur und ihre Familie nicht schlecht. Hier fand ein reges Treiben statt.

Auf einem aus Brettern zusammengezimmerten Podest wurden alle Teilnehmer vermessen.

War einer der Setter zu groß, wurde er schon im Vorfeld vom Wettbewerb ausgeschlossen.

Der schöne, hochgewachsene Lovebird hatte Pech. Seine edle Gestalt und seine glatten langen Haare, die sich im Wind bewegten, konnten die strengen Juroren nicht überzeugen. Zweimal schwangen sie ihr Messband und der eine verkündete mit einer donnernden Stimme: „eliminé“, was ausgeschieden bedeutet. Charlie hatte die erwünschte Größe und ihm wurde eine der Drahtboxen, die im Schlosshof aufgebaut waren, zugewiesen.

Wer Charlie kannte, wusste, dass ihm diese Käfige schon vom alten Schulhof und besonders vom Transporter des „Stiefelmannes“ zutiefst verhasst waren.

Lovebird freute sich, dass er als „Ausgeschiedener“ bei Fleur bleiben durfte.

Verdutzt sah die Familie zu, wie Charlie in die Box verfrachtet wurde und alle wussten, dass das nicht gut gehen würde.

Im Speisesaal des Schlosses begann in der Zwischenzeit die Eröffnungszeremonie. Herren im Anzug und Damen in Ballkleidern hielten Ansprachen. Ein dicklicher Herr aus Irland war scheinbar der Ehrengast der Veranstaltung. Dezent wischte er stets die Spuren von seinem Tweedjackett, wenn ein Hund ihm zufällig zu nahe kam.

Fleurs Eltern nahmen an einem Tisch Platz und bestellten sich ein Frühstück. Ihr Interesse an dem Vortrag über den Setter als internationales Kulturgut hielt sich in Grenzen.

Fleur hatte es abgelehnt, den Saal zu betreten. Sie wollte mit Lovebird in Charlies Nähe bleiben. Dieser begann in der Zwischenzeit in seinem Käfig lautstark zu rebellieren.

Nach und nach waren alle Käfige mit roten „Insassen“ gefüllt. Die meisten fügten sich ihrem Schicksal und dösten vor sich hin.

Fleur saß auf einem Mäuerchen und war entsetzt über das, was sie sah.

Eine alte weißhaarige Dame gesellte sich zu ihr. Sie bemerkte Fleurs Aufregung und versuchte sie zu trösten: „Bleib ruhig mein Kind, ich kenne all diese hohlen Reden. Die Tiere interessieren sie nicht. Wichtig sind die Urkunden und die Pokale. Manche von ihnen leben in der Stadt in einem Penthouse und ihre Hunde verbringen ihr Dasein bei einem Ausbilder im Zwinger, andere tingeln von einem Zirkus zum anderen und ihre Hunde sitzen ihr halbes Leben in Drahtkäfigen. Du musst wissen, ich habe vor Jahren die schönsten Setter gezüchtet, stolz, kräftig mit herrlichem Haar. Heute will man nur noch die kleinen „Hungerhaken“, die nur noch aus der Entfernung an einen Setter erinnern, sehen. Die Zeiten ändern sich, die Menschen inbegriffen und die Hunde auch.“

Ein grollender Donner in der Ferne kündigte ein Gewitter an, das nicht lange auf sich warten ließ.

Ein Regenguss prasselte auf die Hunde in den Boxen nieder.

Fleur war nicht mehr zu halten, sie lief zum Saal und rief: „Ihr müsst die Hunde ins Trockene bringen!“

Aus allen Ecken war der Unmut der Versammelten zu hören: „Bitte Ruhe, Kind du störst!“ riefen einige empörte Stimmen.

Verzweifelt wandte sich Fleur an die alte Frau, die unter einem Dachvorsprung sich vor dem Gewitter in Sicherheit gebracht hatte:

„Helfen wenigstens Sie mir“, rief sie verzweifelt.

„Los Kind, lass uns die Boxen öffnen und die Hunde befreien.“

In Windeseile schoben die Frau und das Kind alle Riegel an den Käfigen zurück und die Hunde stürmten kläffend ins Freie.

Es begann ein heiteres Spiel übermütiger Hunde. Sie rannten kreuz und quer durch die Pfützen, die sich im Schlosshof gebildet hatten. Auch Charlie war dabei. Lovebird konnte an dem verrückten Toben keinen Gefallen finden. Die Nähe zu Fleur war ihm wichtiger. Er schmiegte sich an sie, denn jetzt hatte er sie nur für sich allein.

Ein dürrer alter Herr mit spärlichen Haaren, einer der Funktionäre, wollte zu seinem Fahrzeug, da er seinen Hut vergessen hatte, denn es zog ihm plötzlich empfindlich um die Ohren.

Er kam aber nur bis zur Tür. Von dem Treiben im Schlosshof schockiert, rannte er so schnell es ging in den Saal zurück. Mit viel Mühe gelang es ihm, den Versammelten klar zu machen, dass ihre Hunde „ausgebrochen“ waren:

„Sie haben sich befreit“, stammelte er mit schwacher Stimme.

Alle stürzten in den Schlosshof.

In der Zwischenzeit hatten die übermütigen, glücklichen Tiere den Weiher entdeckt, der an das Gut angrenzte und dessen Uferbereich von schwarzem Moor bedeckt war. Sie wälzten sich im Schlamm und sie genossen ihre Freiheit, während die Menschen für Augenblicke zu sprachlosen Betrachter wurden. Dann begann ein wirres Pfeifen und Rufen.

Duzende Trillerpfeifen sorgten für ein perfektes Durcheinander. Die sonst so folgsamen Hunde reagierten einfach nicht auf die Befehle ihrer Besitzer. An eine Vorführung und Begutachtung der nassen und von Morast bedeckten Setter war nicht mehr zu denken.

Durch ein Mikrophon gab der Veranstalter „aufgrund widriger Umstände“ das Ende des „Setterfestes“ bekannt.

Alle traten die Heimreise an.

Charlie fand sich wieder bei Fleur und Lovebird ein. Die alte Dame verabschiedete sich mit einem dicken Kuss von Fleur. Sie flüsterte ihr zu: „Das haben wir gut gemacht.“

Fleurs Vater, der seine Tochter kannte, fragte sie leise: „Du hast doch nicht etwa deine Hand mit im Spiel gehabt?“

Sie zwinkerte ihm zu, blieb ihm aber eine Antwort schuldig.