23.11.2019

Richard Didicher: Zwei Setter auf der Suche nach den Kinderhänden  

Sie liefen tagelang durch wilde, menschenleere Landschaften und dennoch war Vorsicht geboten. Besonders morgens und abends war die Luft von dem heiseren Knallen der Schrotflinten erfüllt. Die Jagdsaison hatte begonnen.

Jedes Mal, wenn es wieder losging, verkrochen sich die beiden ins Dickicht der vielen Garriguewälder mit ihren kleinwüchsigen Bäumen und warteten ab, bis das Spektakel zu Ende war. Hysterische Pointer sausten an ihrem Versteck vorbei mit der gebogenen Nase im Wind und wenn sich nur der leiseste Hauch einer Witterung in ihren Nüstern verfing, bremsten sie plötzlich ab, standen theatralisch, um sofort wieder loszustürmen.

Lovebird verstand das alles nicht. Charlie sah interessiert zu und amüsierte sich, wenn er sah, dass einer dieser „Elitejäger“ mal wieder eine Kette Rothühner im wilden Eifer überlaufen hatte.

Einmal nur wurde es für die beiden brenzlig, denn eine junge English Setter Hündin mit feinem Näschen hielt plötzlich an, sie witterte ihresgleichen. Ihre Neugierde war zu groß. Lovebird war von dem schwarz-weiß gefleckten Mädchen angetan, doch Charlie knurrte verhalten doch bestimmt, so dass die Engländerin weitertrottete. Die Gefahr war zu groß, dass sie von den Jägern aufgegriffen worden wären.

Es war immer das gleiche Ritual. Wenn die Jagd zu Ende war, warteten Lovebird und Charlie noch etwas ab, bis die Staubwolken der Fahrzeuge am Horizont verschwanden, dann machten sie sich auf, die getöteten Hühner und Kaninchen, die von den Hunden und den Jagdhelfern nicht gefunden wurden, einzusammeln.

Manches Kaninchen, das sich unter Schmerzen verletzt ins Gestrüpp verkriechen konnte und hier qualvoll verendet wäre, wurde von ihnen erlöst.

Ohne es zu wissen überquerten sie die französisch-spanische Grenze und trafen plötzlich überall auf vom Kaufrausch beseelte Menschen, die aus hell erleuchteten Supermärkten prall gefüllte Tragetaschen schleiften, die nach Wurst, Schinken und Käse rochen. Die beiden folgten ihrer Nase. Erst an der Theke einer Duty Free-Metzgerei fielen sie einem Gesellen auf, der mit zwei ganzen Schinken auf dem Rücken ankam. Brüllend verscheuchte er die beiden.

Charly und Lovebird zogen also unverrichteter Dinge und hungrig weiter.

Zwei Tage danach erreichten sie eine große Stadt – wären sie Menschen gewesen, hätten sie gewusst, dass sie sich in Barcelona befanden. Hier herrschte Ausnahmezustand. Tobende Menschen, brennende Polizeifahrzeuge und überall diese gelben Plakate, die aufgebrachte Jugendliche durch die Luft schwangen.

Sie liefen durch die Straßen, doch niemand beachtete sie. Wo waren die Kinder geblieben, diese göttlichen Wesen, die mit ihren kleinen weichen Händen den Kummer zweier unglücklicher Hunde einfach wegwischen könnten? Nur ganz selten sahen sie Kinder auf einem Balkon, die ihnen in einer Sprache, die sie nicht verstanden, etwas zuriefen. Besonders Lovebird begann sofort zu wedeln, er dachte bestimmt, dass es etwas Freundliches war. In einer umgekippten Mülltonne fanden sie Essensreste, die sie nicht verschmähten, da ihr Magen ordentlich knurrte.

Sie verließen die Stadt und sie zogen weiter. Und plötzlich schimmerten ihnen die Wellen am Ufersaum der Costa Brava entgegen. Doch es war ein anderes Meer, grau-blau, ohne die grünen flachen Steine am Fuße des Klosters, ohne die Weinberge und Wiesen mit dem Geruch des wilden Thymians und ohne Fleur.

Auch hier gab es Menschen, auch fröhliche Menschen, die im Meer badeten und sich gegenseitig voller Übermut lachend ins Wasser stießen. Viele Menschen, mehr Menschen als die beiden je gesehen hatten.

Und in dem angrenzenden Ort gab noch mehr davon. Tausende Frauen und Männer, die die Promenade entlang liefen, viele mit einer Bierflasche in der Hand, andere lagen am Rande eines Schwimmbeckens, reckten ihren braunen Po in die Sonne. Diese hatte etwas an Kraft verloren, denn es wurde Herbst. Der Touristenstrom war aber noch nicht abgeflaut, denn jetzt galt es, von den günstigen Angeboten der Nachsaison zu profitieren.

In den Biergärten qualmten die Grills und Lovebird und Charlie konnten einmal mehr nicht widerstehen. Also schlichen sie sich, in der Hoffnung etwas abzubekommen, heran. Ihre Rechnung ging auf. Die Menschen waren in Feierlaune und manch einer ließ absichtlich ein Stückchen Fleisch unter den Tisch fallen.

Vor allem Charlie stand durch seine hagere Gestalt in ihrer Gunst. Eine rundliche Dame aus Bayern war besonders spendabel, sie ging des Öfteren zum kalten Büffet, um „für das arme Hunderl“ noch einen Happen abzustauben.

Natürlich fielen ihre Gunstbezeugungen auch der Bedienung auf. Ein mürrischer Kellner versuchte, wenn er sich unbeobachtet fühlte, durch Fußtritte die beiden Hunde zu verscheuchen. Sie waren ihm genauso zuwider wie die vielen fröhlichen, fremden Menschen.

Als die Nacht hereinbrach, waren Lovebird und Charlie nicht glücklich, aber satt. Sie trotteten zum Strand zurück, um in den Dünen zu schlafen. Der missmutige Kellner verfolgte sie mit seinen Blicken. Er griff zum Telefon.

Als Lovebird und Charlie eine passende Stelle gefunden hatten, kuschelten sie sich aneinander.

Übermüdet schliefen sie ein und bemerkten die beiden Gestalten nicht, die sich langsam heranschlichen. Sie legten ihnen Drahtschlingen, an deren Enden ein Stock befestigt war, um den Hals. Die beiden Hunde schreckten auf und versuchten die Flucht zu ergreifen, aber es war zu spät. Sie wurden auf einen Anhänger verfrachtet, festgebunden und eine halbe Stunde später in einer Perrera, einer der berüchtigten spanischen Tötungsstationen für Tiere abgegeben.