01.12.2019

Richard Didicher: Zwei Setter auf der Suche nach den Kinderhänden  

Am nächsten Morgen gingen die beiden Hundefänger zur Stadtverwaltung, um ihren Scheck abzuholen.

Tierfänger hatten Hochkonjunktur. Bettelnde Hunde und streunende Katzen aus dem Stadtbild fernzuhalten, war die Devise des neu gewählten rechten Bürgermeisters.

Als die blutrote Herbstsonne hinter den Pinienwäldern aufging, fielen ihre warmen Strahlen auch auf die Betonmauern der Perrera und sie färbten das hässliche Grau der Betonmauern in ein helles Rot. Die Nacht davor war schon kalt und alle Tiere genossen jetzt still die Wärme.

Als die Sonne aber höher stieg, fiel sie auf das gesamte Elend, das sich ihr im Innern der Betonboxen offenbarte.

An den leeren Zitzen einer abgemagerten Podenco-Hündin hingen drei hungrige Welpen.

Die Mutter versuchte sie abzuschütteln, was nur dazu führte, dass sie sich fester mit ihren kleinen Zähnen in der Milchleiste der Hündin verbissen. Sie wusste, dass ihre Kleinen verloren waren und nie zu den ruhmreichen Windhunden, der einstige Stolz der alten Spanier, gehören würden.

In einer Ecke lag ein alter Schäferhund, der immer wieder versuchte aufzustehen, was ihm aber nicht gelang und so kroch er vorsichtig bis zum Wassernapf, um festzustellen, dass er leer war.

Ein English Setter drückte sich die ganze Nacht schon an die Betonwand, da ihm der übelriechende Betonboden zuwider war. Noch zwei Tage zuvor lag er auf einem weichen Teppich neben dem Bett seines kranken Besitzers. Nach dessen Tod hatten die Kinder „keine Verwendung“ mehr für den alten Hund und einer der Söhne des Verstorbenen brachte ihn kurzer Hand in die Perrera.

Ein schlanker Pointer, der bei der Jagd ein paar Dutzend Schrotkugel abbekommen hatte, schreckte bei jedem Geräusch zurück und verkroch sich in einer dunklen Ecke. Einige halbwüchsige Podencos begannen wild tobend den Wassernapf durch den Zwinger zu werfen, um ihren Hunger zu vergessen. Jedes Mal, wenn der Blechnapf auf dem harten Boden aufschlug, jaulte der junge Pointer laut auf.

Lovebird und Charlie saßen mit drei jungen Mischlingen in der Einzäunung für Neuankömmlinge.

Die jungen Rüden hatten anfangs versucht, die beiden Freunde zu provozieren, indem sie sie mit hochgestellter Rute umkreisten.

Doch Charlie war nicht gewillt, dieses Spiel zu tolerieren. Durch sein furchtbares Grollen, das selbst die alten Haudegen im ehemaligen Schulgelände in Deutschland in die Flucht schlug, zeigte er auch diesmal wieder, wer das Sagen hat.

Die jungen Rüden gaben auf, Lovebird kauerte mit traurig hängenden Augenlidern in einer Ecke, doch Charlie war hellwach. Mit kleinen Schritten und wachem Auge durchschritt er die Umzäunung.

Sein Blick fiel auf eine Stelle in der oberen Ecke des Drahtkäfigs. Hier hatte der Draht scheinbar etwas nachgegeben. Charlie setzte zum Sprung an. Seine muskulösen Hinterbeine bogen sich wie eine Sprungfeder und ließen seinen Körper hochschnellen. Nach einigen Versuchen brach das verrostete Gewebe. Bei einem weiteren Versuch verletzten herunterhängende Metallteile seine Kopfhaut, doch er gab nicht auf. Und plötzlich gelang es ihm sich mit seinen Vorderpfoten an der Außenwand der offenen Stelle hochzuziehen und er war frei.

Lovebird hatte Charlies Aktivitäten genau beobachtet. Das laute Winseln von Charlie außerhalb des Drahtkäfigs hatte er verstanden. Er musste ihm folgen.

Er versuchte ebenfalls hochzuspringen, doch sein Gewicht drückte ihn immer wieder nach unten. Einmal erreichte er mit seiner Nase die Öffnung, bei seinem nächsten Versuch brach er zusammen, seine Kräfte hatten ihn verlassen.

Still kauerte er in einer Ecke. Er hatte aufgegeben. Selbst auf Charlies intensives Winseln reagierte er nicht.

Die Mischlinge begannen ihn zu beschnuppern und kläfften ihn an. Er ließ alles über sich ergehen.

Die Halbstarken trieben es immer bunter. Dieses wehrlose, rote Haarbündel in der Ecke ließ sie scheinbar für einen Augenblick ihr Gefangensein vergessen. Ihr Übermut war kaum noch zu steigern und so merkten sie auch zu spät, wie ein rotes Kraftpaket von oben auf sie niederging.

Charlie hatte seinen Fluchtweg wieder benutzt, diesmal um seinem Freund beizustehen.

Voller Schreck verkrochen sich die jungen Rüden in einer Ecke der Umzäunung. Charlie näherte sich Lovebird, er zog die Lefzen hoch, so als würde er ihm zulächeln. Er konnte ihn einfach nicht allein lassen, er musste ihn beschützen in dieser Welt voller Widrigkeiten. Sie kuschelten sich aneinander, so wie sie es zum ersten Mal als Welpen taten in dem kalten weißen Transporter auf der Überfahrt von Dover nach Calais.

Später kam ein Wärter und kippte etwas Trockenfutter auf den Betonboden der einzelnen Zwinger.

Die jungen Mischlinge stürzten sich knurrend auf das Futter. Scheinbar hatten sie schon einige Tage nichts gefressen.

Die beiden Freunde ignorierten die Trockennahrung. Sie lagen fest aneinander geschmiegt in ihrer Ecke. Jetzt hatte auch Charlie resigniert. Mit Lovebird zusammen hätte er eine Flucht gewagt. Gemeinsam hätten sie alle Hindernisse überwunden. Alleine, ohne seinen Freund weiterzuziehen und diesen seinem Schicksal zu überlassen, kam für ihn nicht in Frage.

Mittags zogen zwei mürrische Männer den alten Schäferhund aus dem Betonzwinger. Da er nicht laufen konnte schleiften sie ihn über den trockenen steinigen Boden in einen Blechcontainer.

Der alte Rüde wehrte sich nicht. Kein Winseln, kein Jaulen, nur noch Totenstille.

Am späten Nachmittag betrat eine schwarz gekleidete ältere Frau das Gelände. Ein Scheitel teilte ihr schulterlanges schwarzes Haar in zwei gleichmäßige Hälften. Ihr faltiges, braunes Gesicht war voller Anmut. Sie näherte sich dem Wärter, der sich mit einer Bierflasche unter den einzigen Baum auf der Anlage, der etwas Schatten spendete, verzogen hatte und sie steckte ihm wortlos, ohne ihn anzusehen, einige Scheine zu.

Sie ging von einem Zwinger zum anderen und verteilte die Happen, die sie in einer großen Tasche mitgebracht hatte.

Sie näherte sich jedem Tier, ihre dünnen Lippen bewegten sich und sie gaben ihre leisen Worte preis, die nur für die Tiere bestimmt waren.

Die Hunde wurden ruhig und selbst die Welpen unterbrachen ihr Winseln.

Bei Lovebird und Charlie verweilte sie etwas länger, wahrscheinlich weil sie zu den Neuankömmlingen gehörten.

Danach ging sie wieder wortlos an dem Wärter vorbei zum Ausgang. Ihre kleinen knöchernen Hände waren verkrampft, ihre Nägel gruben sich tief in ihre Handflächen. Als das schwere Eisentor sich kreischend wieder verschloss, war es für einen Augenblick still, doch dann war ein Schluchzen zu hören, jetzt nicht leise und demütig, sondern wild und laut. So laut, dass es die ganze Welt hören konnte.