15.12.2019

Richard Didicher: Zwei Setter auf der Suche nach den Kinderhänden  

Die Tage wurden kälter und es schien so, als würde der Herbst nahtlos in den Winter übergehen. Dieser ist im Süden wesentlich milder als in Mitteleuropa, jedoch auch feuchter. Durch längere Regenphasen werden die ausgetrockneten Flächen von einem satten Grün überzogen.

Für Lovebird und Charlie war dieser Regen kein Segen.

Sie kauerten im letzten Winkel des Zwingers und dennoch war ihr Fell durchnässt, denn der Mistral, dieser unerbittliche Wind, blies die Feuchtigkeit durch alle Ritzen des verrosteten Blechdaches.

Am Wochenende kamen manchmal ältere Menschen mit einer Futterspende vorbei, ganz selten auch Familien mit Kindern, die sich den Eintritt in den Zoo sparen wollten. Angewidert von dem Schmutz und Unrat, der überall herumlag, verließen sie aber schnell wieder das Gelände.

An einem Sonntagmorgen stand plötzlich ein jüngerer Mann vor dem Zwinger, er war freundlich, aber er wirkte mit seinen Versuchen, Charlie und Lovebird aus der Ecke zu locken, etwas unbeholfen.

Er ging zu einem der Wärter, der gelangweilt auf einem Zahnstocher herumkaute, und fragte ihn in einem gebrochenen Spanisch nach dem Preis für beide Setter.

Dieser erkannte schnell, dass sein Gegenüber zu den vielen ausländischen Bauarbeitern, die er nicht mochte, gehörte und schwieg. Der Mann dachte, der Wärter wolle den Preis hochtreiben und versuchte ihn milde zu stimmen, indem er ihm in einem holprigen Spanisch seine Geschichte erzählte:

Er komme aus Rumänien und arbeite in Lloret auf dem Bau. Seine Frau habe einen Job in einer Kleinstadt nördlich von Rom. Die beiden Töchter lebten bei den Großeltern in einem Dorf südlich von Bukarest und er selbst habe dort bereits ein Grundstück für ein Haus gekauft. Jedes Jahr zu Weihnachten sei er für drei Wochen zu Hause bei seiner Frau und seinen Kindern.

Das sei ein ganz besonderes Dorf, denn ganz in der Nähe hätte ein reicher Engländer ein Gut erworben. Die englischen Gutsverwalter werden bei ihren Spaziergänger stets von zwei roten Settern begleitet. Und diese beiden Hunde haben es seinen Töchtern angetan. Und jedes Mal, wenn sie ihn über WhatsApp kontaktierten - monatelang der einzige Kontakt zu seiner Familie - folge stets die gleiche Bitte: „Bring für jede von uns als Weihnachtsgeschenk einen roten Setter.“

Er habe versucht in einem Zoogeschäft, wo diese putzigen Hunde ja in den Schaufenstern zu sehen sind, zwei Hunde zu kaufen, doch für den aufgelisteten Preis müsste er zwei Monate schuften, also riet ihm ein Freund, mal in der Perrera nachzusehen und siehe, hier sei er fündig geworden natürlich, wenn der Preis stimme.

Der Wärter begann plötzlich schallend zu lachen:

„Nimm die Köter und verschwinde und verschone mich mit deinen Familiengeschichten, morgen wären sie sowieso eingeschläfert worden und am besten du bleibst mit deiner Sippe in Rumänien, denn die Arbeitsplätze in Spanien sind auch nicht unbegrenzt. Hier, nimm dir zwei Leinen und Halsbänder, da liegen noch welche herum. Die Hunde, denen sie gehörten, haben keinen Hals mehr zum Anleinen “, sagte er spöttisch und kaute weiter auf seinem Zahnstocher.

Der Mann leinte Lovebird und Charlie an und sie folgten ihm willig aus dem Zwinger.

In der Gemeinschaftsunterkunft ließ er die beiden Hunde vorerst im Fahrzeug und wartete ab. Als seine Mitbewohner sich wie jeden Sonntag in einer Kneipe zu einem Bierchen trafen, holte er die Hunde aus dem VW-Bus, stellte sie unter die Dusche und wusch den Lehm aus ihrem Fell. Danach kämmte er sie mehr schlecht als recht.

Lovebird und Charlie ließen alles über sich ergehen. Sie waren müde und erschöpft und dieser Mann, der sie aus dem Gefängnis befreit hatte, gehörte bestimmt zu den Guten. Am Abend brachte er sie wieder zum Bus, fuhr mit ihnen eine Runde und nachdem beide eine Fleischdose verdrückt hatten, schliefen sie auf dem Rücksitz ein, er öffnete einen spaltbreit das Seitenfenster und verließ dann den Bus Richtung Arbeiterunterkunft. Vorher fotografierte der schweigsame Mann die beiden mit seinem Handy und schickte das Foto an seine Töchter.

Die Ladefläche hinter der Rückbank war eine kuriose Ansammlung von Lebensmittel in Dosen, Schuhen in Kartons, Kleider in schwarzen Plastiksäcken, Elektrogeräten und vielem mehr. Auch ein bereits geschmückter Weihnachtsbaum aus Kunststoff war dabei.

Am nächsten Tag kehrte er früh morgens zu seinem Fahrzeug zurück, fütterte die Hunde, leinte sie an und ließ sie in einer nahen Grünanlage ihre Geschäfte erledigen.

Dann legte er eine CD mit einer sonderbaren Folkloremusik ein und fuhr los. Er fuhr stundenlang ohne Unterbrechung. Zwischendurch sang er mit und versuchte die sonderbare Melodie zu übertönen. An Charlie und Lovebird zogen flüchtige Bilder vorbei, schneller, immer schneller, bis sie müde wurden und einschliefen.

Die Nacht verbrachten sie auf Rastplätzen. Der Mann öffnete eine Wurstdose für sich und eine Fleischdose für die Hunde. Nach dem Essen trank er eine Flasche Bier, legte den Fahrersitz zurück, so dass Charlie und Lovebird auf dem Rücksitz zusammenrücken mussten und schlief ein.

Wortlos stand er am Morgen auf, ließ die Hunde ihr Geschäft erledigen, nahm einige Happen zu sich, startete dann sein Fahrzeug und fuhr los. So ging es tagelang.

Nach einer viertägigen Fahrt verließen sie die Autobahn und die Straßen wurden immer kleiner, holpriger und staubiger, bis sie vor einem kleinen Haus anhielten.

Lovebird und Charlie, die mal wieder eingeschlafen waren, wurden durch einen ohrenbetäubenden Lärm geweckt. Lachende Menschen stürzten aus dem Haus, vor dem das Fahrzeug hielt, aber auch aus den Nachbarhäusern. Menschen umringten den Bus. Der schweigsame Mann stieg aus, rief etwas in einer fremden Sprache, er schien glücklich zu sein. Eine junge Frau hing an seinem Hals, er nahm zwei Mädchen auf den Arm und zeigte durch das Seitenfenster auf Charlie und Lovebird. Die Kinder drückten sich die Nasen an der Scheibe platt und die beiden Setter saßen regungslos da, sie wussten nicht, wie ihnen geschah, sie konnten die Situation nicht einordnen.

Als sich die Euphorie gelegt hatte, nahm der stille Mann, der jetzt alles andere als schweigsam war, da er ununterbrochen lachend auf die Frau und die Kinder einredete, die beiden Hunde aus dem Bus und drückte jedem der Mädchen eine Leine in die Hand, der etwas größeren Tochter, die von Lovebird und der kleineren die von Charlie. Zaghaft nahmen die Kinder ihr Geschenk in Empfang.

Bis jetzt hatten sie diese schönen roten Hunde nur aus der Entfernung bei den englischen Herrschaften gesehen, jetzt gehörten sie ihnen. Vorsichtig versuchte die Größere, Lovebird mit der Hand über die Stirn zu streichen, die Kleinere tat bei Charlie das Gleiche.

Das Eis war gebrochen. Diesen Kinderhänden konnten die beiden Setter nicht widerstehen.