Der Wolfstein im Cleebronner Wald

Diese beschauliche Welt vor unserer Haustür, die ich so gut kenne, mit fleißigen Menschen bestrahlt vom Daimlerstern, mit einer Natur, die jeden Morgen frisch gewaschen in der Sonne glänzt, mit einem „grünen Fürsten“, der auf dem Dach seines Amtssitzes Bienen züchtet; diese biedere Welt birgt in ihren Wäldern ein abscheuliches Denkmal mit folgender Inschrift:

„Hier wurde am 10.3.1847 der letzte Wolf in Württemberg durch Waldschütz Sorg aus Eibensbach erlegt.“

Ein massiger Stein mit einer plumpen Tier–Fratze, die wohl ein Wolfskopf sein soll, fünfzig Kilometer von uns entfernt, errichtet im Jahr 1969.

Ein Denkmal - für wen?

Für einen „Schützenkönig“, der besser auf Scheiben aus Holz geschossen hätte, denn das Töten eines Tieres ist kein rühmlicher Akt.

Oder als traurige Erinnerung an das letzte Exemplar eines Wesens, das in den württembergischen Wäldern schon zu Hause war, bevor der Mensch kam?

So war es vom Auftraggeber dieses Steinkolosses bestimmt nicht gedacht, denn dann hätte man die obligatorischen durch den Wolf getöteten Schafe weggelassen. Nein, auch im Jahr 1969 sollte das alte Gruselbild vom bösen Wolf wieder aufgefrischt werden.

Für meinen alten Wolf das Ziel einer traurigen „Wallfahrt“, die wir zusammen antreten werden.

Die ausgestopfte tote Hülle des Wolfes im Stuttgarter Naturkundemuseum will ich ihm ersparen. Und den Wolfswelpen auch, der hier mit dem Steinzeitjäger in Szene gesetzt wird als Beweis einer ach so tollen Freundschaft. „Heute sind wir Freunde, morgen richte ich meine Waffe auf dich, kleiner Wolf.“

Wir fuhren über Sinsheim und Eppingen, über kleine Straßen, durch Dörfer, die friedlich wirkten mit Kindern, die vor der Eisdiele spielten und Schafen, die friedlich auf der Weide grasten. Die großen Städte, obwohl gar nicht so weit entfernt, schien man hier nicht zu kennen.

Der Wolf lag friedlich mit geschlossenen Augen und genoss die Zuwendung, die ihm Jela zu Teil werden ließ.

Das letzte Stück des Weges zwischen Spielberg und Cleebronn legten wir zu Fuß zurück.

Der Wolf trottete unsicher neben mir her, ihm schien diese Umgebung nicht geheuer zu sein.

Hier also lebte einer der letzten Wölfe, dachte ich mir. Soweit man sehen kann nur Bäume, so viel Raum für jeden, auch für einen Wolf.

An einer Weggabelung wollte ich rechts abbiegen, der Wolf gab mir aber zu verstehen, dass dies die falsche Richtung wäre. Jetzt erst bemerkte ich, dass er genau wusste, wo unser Ziel lag und ich folgte ihm.

Der Stein war schon von weitem zu sehen. Er war noch hässlicher als auf den Abbildungen, die ich bereits kannte. Die Buchstaben gruben sich in den schon brüchigen Fels wie böse Runenzeichen, die verletzen und zerstören wollen.

Ich setzte mich auf einen umgeknickten Baumstamm, der Wolf und die Hunde legten sich daneben.

Nichts Ergreifendes, keine Worte, keine Dramatik, nur Stille und in meinen Gedanken höre ich immer wieder einen Schuss, der alles auslöscht.

Nach einer Stunde traten wir schweigend unseren Heimweg an.

Das eingravierte Jahr auf dem Stein ließ mich nicht los: 1847.

Eine bewegte Zeit, auch in Württemberg, nach Jahren der Hungersnot mit den Vorboten der Revolution. Vorbei sind auch in Württemberg die Zeiten des absolutistischen Carl Eugens, der Wild und Bauern vor sich her trieb.

Ein emsiger König kauft jetzt Zuchtrinder, Schweine und Hengste im Ausland, letztere als Grundstock für das Marbacher Gestüt.

Der letzte getötete Wolf ist Nebensache, denn es gibt jetzt das Cannstatter Volksfest und es findet sich in den Analen kein Hinweis, dass dem „Waldschütz Sorg“ auch wenigstens eine Medaille verliehen wurde.

Aber auch die nachträgliche Glorifizierung der Tat des Schützen im Jahr 1969, als der Stein aufgestellt wurde, entbehrt jeder Vernunft oder Logik. Man könnte doch glauben, in dieser bewegten Zeit habe sich in den Köpfen der Menschen etwas verändert und der Gedanke des Tötens ist endlich verblasst.

Aber ein Feindbild ist erhalten geblieben, vielleicht auch die heimliche Bewunderung für ein majestätisches Tier verbunden mit einer grausamen Tat.

Und doch nicht das einzige derartige Zeugnis in Deutschland.

In Stein gemeißelt auch die Wolfssäule in der Laußnitzer Heide. Sie erinnert an die Jagd vom 11. November 1740, bei der Rudolph Siegemunden von Nostitz (1696−1754) einen großen Wolf getötet hatte. Vierzehn Jahre danach sahen sich hoffentlich Wolf und Schütze in einer anderen Welt wieder.

Ein weiterer Stein mit hässlicher Inschrift erinnert an das Jahr 1802, als der letzte Wolf der Heide an der Talsperre Malter von Ober-Hof-Jägermeister von Preuß getötet wurde.

Die Wolfssäule im Friedewald bei Auer geht noch weiter zurück. Am 20. April 1618 soll hier der letzte Wolf Sachsens bei einer Treibjagd getötet worden sein. Der Schütze hieß Anthoni Brum, war „Jäger-Jung“.

Armer alter Wolf, bleibe ruhig, noch stehen heute für Jungjäger keine Wölfe als Zielscheibe zur Verfügung, doch die Zeit wird kommen.

Doch es gibt Rehe, die wie Ziegen vor der Haustür weiden. Ein jugendlicher Jagdgeselle berichtete mir über ein abendliches Jagderlebnis mit seinem Jagdfreund: Der eine hat geschossen, während der andere die erlegten Rehe wegfuhr wie am Fließband den ganzen Abend lang.

Wo bleibt das Innehalten, die Achtung vor den Geschöpfen Gottes, die er uns laut Schöpfungsgeschichte am 6. Tag, als er Mensch und Tier schuf, anvertraute?,4a

Der Wolf sah mich müde mit halb geöffneten Augen an. Aus seinem Fell ist das Grau einem Weiß gewichen. Ein schneeweißes Gesicht, wie ich es von meinen alten Halbwölfen kenne, wenn sie zu Menschen werden, bevor sie gehen.