13.12.2021

Richard Didicher

Gordi der Lawinen - Rettungshund /  eine Kurzgeschichte

Ein Mann, der als Kind bei Nachbarn einen Wurf Gordon Setter Welpen mitbetreuen durfte, will die schönen Erinnerungen noch einmal wahr machen. Er findet eine kleine Gordon Setter Hündin bei einer renommierten Züchterin in Hessen. Diese ermuntert den Mann später mit der Kleinen zu züchten, da dieser Welpe etwas Besonderes sei.

Und sie ist wahrlich eine Augenweide. Sie wächst prächtig und sein Besitzer ist sicher, mit dieser Hündin- mit dem Kosenamen „Gordi“ - würde er seinen lang gehegten Traum verwirklichen.

Eines Tages bei einem Spaziergang trägt der halbwüchsige Welpe einen großen Stock in der Schnauze. Der besorgte Besitzer fürchtet, der Welpe würde sich die Zähne verletzen und versucht ihm den Stock aus dem Fang zu nehmen. Dabei sieht er, dass drei der kleinen Zähnchen nach dem bereits erfolgten Zahnwechsel fehlen, was ihm anschließend durch einen Tierarzt bestätigt wird.

Nicht für die Zucht geeignet, entscheiden die Funktionäre. An diesen fünf Millimeter großen fehlenden Prämolaren sollten seine Hoffnungen scheitern? Er war untröstlich.

Doch nirgends sind die Gesetze so hart und so konfus wie in der Hundezucht.

Es gibt Hunderassen, deren Züchter Vorbeißer (unteren Schneidezähne stehen vor den oberen), Ektropium (unteres Lid hängt herab) oder ein komplett fehlendes Haarkleid (Nackthunde) und so einiges mehr als Rassemerkmal betrachten, bei anderen Rassen wieder sind das zuchtausschließende Mängel.

Der kleine Sohn des Mannes, der das Jammern mitbekommt, versteht die Welt nicht mehr. Er versichert seinem Vater, dass Gordi der liebste Hund sei, den es gibt. Dass sie ihm gelegentlich die Hausschuhe klaue, sei doch nicht schlimm, sie bringe sie doch jedes Mal wieder zurück.

Zwei Wochen später verkauft der törichte Mann, als sein Sohn in der Schule ist, die Hündin an einen Gastwirt aus Bayern, der einen jungen Hund mit guter Nase sucht, um ihn als Rettungshund auszubilden.

Der Mann hat noch ein gutes Gewissen dabei, da der Rettungshundeführer, ein freundlicher, aber etwas einsilbiger Mensch, ihm versichert, dass in seiner Gastwirtschaft wahre Leckerbissen auf Gordi warten und dass die Arbeit dem Hund viel Spaß machen wird.

Ein Jahr ist vergangen, der Name Gordi in der Familie scheinbar vergessen. Der Mann muss seinem Sohn keine Lügengeschichten mehr erzählen. Auch die Wogen in seinem Inneren hatten sich geglättet und er kann wieder ruhig schlafen.

Und dann kommt der Tag, als er im Postkasten einen Brief aus Bayern findet. Ein kariertes Blatt scheinbar aus einem alten Heft gerissen mit folgendem Satz: „Heute hat Gordi einem Menschen das Leben gerettet.“

In den folgenden Jahren erhält er in den Wintermonaten drei weitere Briefe mit dem gleichen Inhalt.

Wie den ersten Brief versteckt der Mann die weiteren Briefe in seinem Schreibtisch.

Der Junge wächst heran, er ist klug und wissbegierig.

Nachdem der Mann sich von der Zuchtidee verabschiedet und aus dem Tierheim einen großen zottigen Hund nach Hause bringt, hilft der Junge diesen von Kletten zu säubern, zu baden und zu kämmen.

Und plötzlich sagt er, indem er seinen Kopf auf den Rücken des Hundes legt: „Die Haare sind pechschwarz, wie die von Gordi.“

Der Mann legt verstört den Kamm bei Seite und sagt nach längerem Schweigen:

„Nichts ist so schlimm wie eine Lüge. Die Geschöpfe, die uns anvertraut werden, darf man nie verraten. Zucht heißt oft der Natur ins Handwerk pfuschen. Drei kleine Zähne machen noch keinen klugen und liebenswerten Hund aus. Junge, ich habe versagt. Es tut mir leid“.

Noch versteht der Junge nicht, was sein Vater meint.

Dieser geht zu seinem Schreibtisch und überreicht dem Jungen die Briefe aus Bayern. Der Junge überfliegt sie und rennt davon.

Einige Tage gehen sich beide aus dem Weg, doch plötzlich nach dem Abendessen sagt der Junge zu seinem Vater: „In einer Woche haben wir Weihnachtsferien. Bitte bring mich zu Gordi.“ Dieser nickt nur und verschwindet in seinem Arbeitszimmer.

Beide kommen an einem Samstag in Grainau in der Nähe von Garmisch an. Der Junge stürmt in die Gaststätte. Vor dem Kamin steht ein Weidenkorb, darin liegt auf einem weichen Kissen ein alter Hund. Sein pechschwarzer Rücken und sein vom Alter weiß gewordener Kopf bilden einen Kontrast. So viele Jahre sind vergangen und dennoch bewegt die Hündin leicht ihre Rute und zieht die Lefzen hoch zu einem Lachen, sowie sie als Welpe den Jungen stets begrüßt hat.

Der Mann kommt auch zum Korb, streicht dem Hund über den Kopf geht dann zum Wirt, der auch fassungslos die Szene beobachtet und legt diesem ein Bündel Scheine auf den Tresen und sagt: „Es war kein redliches Geschäft.“ Dann setzt er sich auf einen Stuhl und schweigt.

Auch der Wirt kann mit der Situation nicht umgehen und verlässt den Raum.

Etwas später kommt seine Frau mit einer Schüssel Weißwürste und bittet die beiden zu bleiben. Ein Zimmer habe sie bereits zurecht gemacht. Wenigstens jetzt sollte man sich besser kennenlernen.

Der Junge ist glücklich und sein Vater zu müde, um zu widersprechen.

Am folgenden Tag überredet die Frau die beiden, vor der Abfahrt wenigstens einen Spaziergang mit Gordi durch die verschneite Landschaft zu machen. Auch diesmal fügt sich der Vater.

Als die beiden mit Gordi zum Wandern aufbrechen, ruft die Frau ihnen hinterher, dass sie in der Nähe des Ortes bleiben sollen, da weiter oben akute Lawinengefahr bestehe.

Der Junge ist außer sich. Er tobt mit Gordi durch die Landschaft und diese kann trotz ihres Alters gut mithalten. Der Mann folgt den beiden etwas in Gedanken versunken, aber doch glücklich.

Ohne es zu wollen, entfernen sie sich recht weit vom Ort.

Als Gordi merkt, dass der Mann zu weit zurückbleibt, dreht sie um und läuft kläffend zu diesem hin.

Der Mann geht in die Hocke und bürstet ihr zärtlich mit der Hand den Schnee aus dem Fell.

Im gleichen Augenblick ertönt ein donnerndes Geräusch und eine Lawine stürzt den Berg hinunter. Instinktiv drückt der Mann die Hündin an sich.

Einen Augenblick später ist die Landschaft nicht wiederzuerkennen. Riesige Schneemassen soweit das Auge reicht und nirgends ist der Junge zu sehen.

Panisch sucht der Mann sein Handy und ruft den Gastwirt an. Dieser versteht sofort und löst Alarm aus.

Auch Gordi hat verstanden und setzt sich in Bewegung. Wie ein junger Hund bezwingt sie die Schneemassen, hält dann plötzlich inne, bellt etwas krächzend, wie es alte Hunde tun und beginnt mit den Vorderpfoten an einer Stelle wie rasend zu graben. Auch der Mann setzt seine Hände ein und hilft ihr dabei. Nach kurzer Zeit wird ein Zipfel der Jacke des Jungen sichtbar. Der Hund verbeißt sich darin und zieht mit Leibeskräften.

Als die Retter ankommen, ist der Junge bereits von den Schneemassen befreit. Gordi liegt neben ihm und atmet schwer. „Es ist das Herz“, sagt der Gastwirt. Der Junge wird sofort zwecks Kontrolle ins Krankenhaus gefahren und Gordi in die Tierklinik.

Am Abend sitzen alle im Gasthaus um den Kamin. Der Gastwirt flüsterte dem Jungen zu, dass der Herrgott es gut mit ihm meine, und dass heute für ihn ein Glückstag sei. Auch Gordi ist wieder die alte. Sie kaut an einem Kalbsknochen und wenn der Junge sie anspricht zieht sie die Lefzen zu einen Lächeln hoch.

Als sie am folgenden Morgen sich bereits verabschiedet hatten und im Auto sitzen, kommt die Wirtsfrau mit Gordi an der Leine, öffnet die hintere Wagentür lässt Gordi hineinspringen und richtet aus, dass ihr Mann sich entschuldige und mitteilen lasse, dass unredliche Verkäufe ja rückgängig gemacht werden müssten und dass er sowieso einen jungen Hund für den Rettungsdienst brauche.

Sie wischt sich eine Träne weg, drückt dem Jungen die Herztabletten für Gordi in die Hand und geht zurück in die Gaststätte. Von der Tür ruft sie noch dem Mann und dem Jungen, die versteinert im Auto sitzen, zu, dass es Zeit sei, endlich loszufahren.

Richard Didicher

Natürlich wird Gordi zu Hause nach Strich und Faden verwöhnt.

Natürlich verträgt sie sich gut mit dem Hund aus dem Tierheim.

Natürlich kann diese Geschichte wahr sein, wenn auch nicht in allen Details.