02.01.2022

                                Sonderbarer Silvesterabend

Ich laufe mit unseren beiden Settern den üblichen Weg. Die Nacht bricht herein, wie jeden Abend.
Auf dem geteerten Waldweg  kommt mir ein  Paar entgegen. Ein junger  Mann schiebt seine Frau im Rollstuhl. Sie lachen und sind glücklich. Ein glückliches Neues Jahr!
Wir laufen weiter, eine Frau spricht mich an. Ich erkenne sie wieder, sie hat vor kurzem von ihrem Golden Retriever Conner Abschied nehmen müssen. Sie ist traurig und erzählt mir wieder die Leidensgeschichte ihres verstorbenen Hundes.
Bisou, die die menschliche Gefühlswelt genau einschätzen kann, drückt sich an sie. Die Frau streicht ihr über den Kopf und sagt: „ Ich glaube, ich werde mich doch wieder auf die Suche begeben. Vielleicht wird es ein Setter wie du, Bisou“. Sie wünscht uns „ein glückliches Neues Jahr“ und geht weiter.
Wir begegnen noch der Dame mit ihren kleinen rumänischen Mischlingen, dem  Pudelmix mit seiner lustigen Frisur aus dem Tierheim in Kosovo und den beiden streitsüchtigen Shepherds , die heute Abend ganz still an uns vorbei gehen. Ein glückliches Neues Jahr!
Heute ist alles anders. Auf der  Wiese, dem Spielplatz der Hunde, ist Ruhe. Über dem kleinen See daneben  ziehen die Nebel auf.
Auch meine beiden Hundedamen haben zum ersten Mal keine Lust zu toben. Sie stehen und halten die Nase in den Wind, die Behänge etwas aufgerichtet, und lauschen.
Und plötzlich glaube ich ein fernes Jaulen zu hören. Es klingt wie das Aufbegehren der Hunde in einem Zwinger, der bestimmt zwei Kilometer von unserem Haus in Frankreich entfernt ist, wenn der Besitzer die Fütterungszeiten mal wieder vergessen hat.
Die Klagelaute werden lauter und lauter.  Und ich bilde mir ein, dass ich den „Sklavenchor“ aller Hunde dieser Welt höre – aus  den „perreras“ aus Spanien, den  französischen “fourrières", aus den Auffangstationen der Hundefänger in Ungarn oder Rumänien und überall auf der Welt. Ein glückliches Neues Jahr?
Ich drücke Bisou und Jela an mich und auch sie wollen plötzlich nach Hause.
Trotz Böllerverbot fliegen am nahen Ortsrand die Leuchtraketen durch die Nacht, so als wäre es Krieg.
Die Lichterketten  der Häuser leuchten uns den Weg.  Verzierte goldene Bäume,  Torbogen  tausendfach beleuchtet, güldene Terrassen, Rehlein  an Hauswänden, bunte Lichterspiele.
Hier scheint die Welt in Ordnung zu sein.
Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass wir auch an der Hütte des „Einsiedlers“ vorbeikamen. Er saß trotz Kälte auf seinem Holzstuhl vor dem Zelt und wärmte seine Hände an sieben hell brennenden Kerzen. „Ein glückliches  Neues Jahr!“ ruft er uns nach.
Ein glückliches Neues Jahr?

Richard Didicher