11.01.2022

Niemandsland (Teil 1)

Die Werra, dieser müde durch Salzlaken geschädigte Fluss, der im thüringischen Schiefergebirge entspringt, fließt die deutsch–deutsche Grenze entlang und hat viel gesehen: die willkürliche Teilung einer Nation, das Leid der Menschen auf beiden Seiten der Grenze, die hysterische Abschottung der DDR durch Beton und Stahl, Minenfelder, Hundetrassen und Selbstschussanlagen. Auch die Gewehrsalven der Grenzsoldaten und die Todesschreie unschuldiger Menschen blieben ihr nicht verborgen. Fast befreit trägt sie die Last ihrer Erinnerungen in die Weser, um sie danach in der weiten Nordsee zu versenken.

Die Erinnerungen der Menschen an ihre Untaten und Grausamkeiten, an ihren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, befohlen von einem korrupten und verlogenen System, 1000 Opfer des DDR Grenzregimes, diese lassen sich nicht wegspülen.

Der junge Grenzoffizier Josef Wild ließ sich auf einem parallel zur Grenze angelegten Fahrweg mit Betonplatten stehend von seinem Fahrer die Grenze entlang kutschieren. Die Pose war beeindruckend. Die eine Hand an der Hosennaht, die andere als Stütze auf dem Rahmen der Windschutzscheibe. Seine steingraue Uniform mit grüner Paspelierung und grünem Mützenrand war neu. Er hatte die Offiziersschule in Plauen, der Kaderschmiede der DDR-Grenzoffiziere, als Jahrgangsbester abgeschlossen. Eigentlich wollte er Germanistik studieren, denn die Literatur hatte es ihm angetan. Als Jugendlicher verschlang er alle Bücher, die ihm in die Hände kamen, vorrangig klassische Literatur. Als ihn sein Vater einmal, anlässlich einer überregionalen LPG-Sitzung mit nach Weimar nahm, stand er vor dem Standbild von Goethe und Schiller und weinte. „Diese beiden haben uns in der Welt nicht blamiert, wie es durch die Nazis geschah. Unsere Dichter, Maler und Komponisten sind alles, was uns Deutschen geblieben ist“, sagte er später zu seinem Vater.

Und jetzt war er als Leutnant Teil des Grenzkommandos Süd, GKS, Stab Erfurt, weil die Partei es so wollte und sein Vater nicht den Mut hatte, den Genossen zu widersprechen.

Ursprünglich war sein Vater Friedrich Wild ein streitbarer Sozialdemokrat, aber nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD gab er klein bei. Um sicher zu gehen, schickten ihn die Genossen für zwei Jahre nach Moskau auf die Hochschule für Ackerbau und Viehzucht. Er kam scheinbar geläutert zurück und vertrat in der Öffentlichkeit die Grundsätze der Partei. Er wurde 1955 in einem Ort in der Nähe von Langensalza zum LPG-Vorsitzenden ernannt. Nach außen war er stets linientreu und bemüht in der LPG die Erträge zu steigern, denn nur so konnte die DDR den Verlockungen des Westens standhalten. „Satte Menschen sind friedlich“ war seine Devise.

Seine Mutter war eine schüchterne Flüchtlingsfrau aus dem Sudetenland, die auf der Flucht vor den Russen ihre Familie verlor und die versuchte sich allein nach Frankfurt durchzuschlagen. Eigentlich war sie nicht allein, denn einer der Jagdhunde ihres Vaters, ein roter Setter, wich nicht von ihrer Seite. Und wenn es mal brenzlig wurde und es galt sie zu beschützen, fletschte er die Zähne und wurde zum Raubtier.

Sie saß drei Tage am zerstörten Bahnhof von Unterberg mit ihrem abgemagerten Hund und wartete, dass ein Zug kam, doch der Bahnverkehr war längst eingestellt und so kam auch kein Zug, dafür aber Josephs Vater, der zuerst auf den Hund aufmerksam wurde und sein Herz höher schlagen ließ. Er fragte nach dem Namen des Hundes und wollte auf ihn zugehen und ihn streicheln, doch die Frau wehrte ab: „Ich bin die Susanne, er heißt Bodo und greift jeden fremden Mann, der mir zu nahe kommt, an“, sagte sie.

Wollen wir mal sehen“ sagte Josephs Vater und er strich dem Hund vorsichtig über den Kopf. Dieser blickte mit seinen sanften Augen zu ihm hoch und beschnupperte ihn.

Wahrscheinlich riecht er unsere Hündin Bianca. Als ich von der Front verwundet zurückkam, fand ich in unserem zerbombten Haus nur noch den Setter. Meine Eltern hatten den Krieg nicht überlebt.

Wenn Sie Hunger haben, Susanne und sich aufwärmen möchten, können Sie mich begleiten, ich habe zwei Zimmer notdürftig repariert und außerdem habe ich heute mit der Flinte meines Vaters, die ich in den Trümmern fand, einen Hasen geschossen.“ Die Frau nickte, nahm Bodo an die Leine und folgte wortlos.

Ein Jahr danach kam Joseph zur Welt.

Und dieser fuhr jetzt auf einem holprigen Grenzweg, sah von Zeit zu Zeit auf die westdeutsche Seite und dachte an die kleine Marie aus Oberberg: „Wenn sie ihn so sehen würde“, doch er verwarf den Gedanken sehr schnell, denn sie lebte jetzt im Westen und gehörte zu den imperialistischen Klassenfeinden.

Früher verband die beiden Dörfer Unterberg und Oberberg eine einfache Straße und die Kinder beider Orte spielten miteinander. Die Bewohner beider Dörfer kannten sich und nicht selten wurden auch Ehen zwischen jungen Menschen beider Orte geschlossen.

Auf der Potsdamer Konferenz wurde durch die Siegermächte Deutschland willkürlich aufgeteilt und plötzlich gehörte Unterberg zur russischen Besatzungszone und Oberberg zur amerikanischen.

Die ersten Jahre nach der Teilung änderten kaum etwas am Leben der Menschen. Armut, Hunger und Trauer um die im Krieg Gefallenen gab es überall in Deutschland.

Jeder versuchte sich selbst zu helfen, so auch Friedrichs Vater. Morgens in aller Herrgottsfrüh nahm Friedrich Wild Bianca und Bodo an die Leine, die zerlegte Flinte war im Rucksack verstaut, sein Nachbar, der hagere Müller stand schon vor dem Hoftor und beide schlichen sich in die Felder. Die Hunde suchten die Wiesen ab und jedes Mal, wenn sie Wild witterten, standen sie wie angewurzelt, so dass sich Friedrich anschleichen konnte. Ein Knall und schon gab es einen Hasen, einen Fasan oder Rebhühner für den Rucksack. Natürlich bekamen auch die Hunde, die nicht sehr wählerisch waren, etwas von der Beute ab.

Nachmittags suchten die beiden Männer nach Obst in den Obstwiesen, die nicht mehr bestellt und so von Brennesel überwuchert waren. Jetzt waren auch die Kinder dabei. Marie, die Nachbarstochter, und Joseph.

Wenn die beiden keine Lust mehr hatten Beeren zu pflücken, spielten sie mit Bodo, dem Flüchtlingshund und Bianca, der Trümmerhündin, wie Josephs Mutter die beiden manchmal nannte, auf der Wiese. Maries Vater sagte dann zu Josef: „Du musst mir versprechen, auf sie aufzupassen, dass sie nicht in den Bach fällt. Sie ist so stürmisch wie ein junger Setter.“ Josef erwiderte dann: „Mach ich, ich verspreche es, ich werde immer auf sie aufpassen.“ Marie wurde bei diesen Worten ganz rot und als sie allein waren, schenkte sie ihm ein weißes Taschentuch mit angeblich seinem eingestickten Namen, der nur aus einigen unbeholfenen Stichen bestand.

Ein bescheidenes Leben in einer zerstörten Welt bahnte sich an und die angebliche Grenze interessierte keinen. Bis zu dem Tag Anfang 1952, der alles veränderte.
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