10.12.2022: Fortsetzung - Teil 10

Die folgenden Wochen verbrachte Oberstleutnant Joseph Wild wieder in der Kaserne und er war froh, dass es an der Grenze keine Zwischenfälle gab.

Bei seinen, bei den Grenzsoldaten gefürchteten, Politabenden mit Frage-Antwort-„Spiel“ ertappte er sich immer wieder, dass er in seinem Kopf die stereotypen Formulierungen hinterfragte. Selbst Lucas merkte, dass Joseph nicht ganz bei der Sache war und er wurde immer „eigenständiger“ und büxte auch manchmal aus. Sein Besitzer ließ es ihm durchgehen, denn Lucas „Parteihalsband“ war der Garant für dessen Unversehrtheit. Als er an einem Herbsttag aber mehr als eine Stunde wegblieb, wurde Joseph unruhig. Er nahm sein Fernglas und begab sich auf den Grenzturm, um nach dem Ausreißer Ausschau zu halten.

Er traute seinen Augen nicht. Auf der Wiese im „Feindesland“ tobte eine Horde Setterwelpen und dazwischen erspähte er Lucas, der sie kräftig aufmischte. Eine junge Frau warf bunte Bälle durch die Gegend und sie schien viel Spaß zu haben. Neben ihr stand ein erwachsener Setter, bestimmt die Mutter der kleinen Rabauken, die scheinbar von dem bunten Treiben wenig hielt oder einfach nur ihre Atempause genoss.

Joseph lächelte vor sich hin, vielleicht beneidete er Lucas auch. Dieser schlaue Hund ignorierte die von Menschen aufgetürmten Grenzzäune, er genoss seine Freiheit im Kreise seiner ungestümen Kinder. Und Joseph war glücklich, als er sah, dass diese junge Frau Lucas über sein seidenes Haar strich. Wie gerne wäre er an dessen Stelle gewesen.

Und wieder kamen diese Kindheitserinnerungen auf und Joseph wusste nicht ob sie schön oder schmerzhaft waren.

Manchmal dachte Joseph auch darüber nach wie sein Leben verlaufen wäre, wenn man ihm erlaubt hätte seinen Neigungen zu folgen und Literatur zu studieren: Lessing, Heine, Goethe Schiller, Hölderlin, Rilke, Hesse, Thomas Mann. Wie wären wohl diese großen Männer mit diesen grauen Grenzzäunen umgegangen?

Hätten sie sich auch einem politischen System untergeordnet und Geschichten über Entenzucht in der LPG verfasst oder Hymnen an einen Traktor geschrieben?

Vielleicht auch wären sie in die „innere Emmigration“ gegangen, wahrscheinlicher aber ist, dass sie sich gewehrt hätten.

Weihnachten verbrachte Joseph dieses Jahr bei seinen Eltern. Er und Lucas begleiteten seinen Vater zur Jagd. Verwundert blickte der Vater Joseph an, da dieser keine Lust hatte eine Büchse mitzunehmen. „Du triffst für uns beide und außerdem trage ich schon mein halbes Leben im Dienst Waffen mit mir herum. Dir als Sonntagsschütze, der für den Weihnachtsbraten zuständig ist, sei sie gegönnt “, meinte dieser.

Schnippisch erwiderte der Vater, dass bei solch einem hoch dekorierten Parteihund auch seine eigene Büchse überflüssig sei, da Lucas bestimmt das Wild allein erledigen und anschließend ein Freudengebell auf die SED Führung anstimmen wird.

Die Jagd war erfolgreich und natürlich trug Lucas seinen Teil dazu bei.

Auch dieses Jahr gab es einen Rehbraten mit böhmischen Knödel und Rotkraut und zum Nachtisch nach einem Familienrezept aus der Heimat der Mutter.

Kurz nach Mitternacht wurden alle Tiere im Stall gefüttert und die Hunde erhielten auch ein Stück Braten. Diese alte Tradition versinnbildlichte den Respekt, den man als Mensch allen Lebewesen schuldet, erklärte ihm einmal der Vater.

Unwillkürlich fragte sich Joseph: „Und wo bleibt die Achtung vor dem Menschen?“ Und wieder mal musste er an die Demütigung am Brandenburger Tor denken.

Den Silvesterabend verbrachte der Hagestolz in der Grenzkaserne. Bei den Grenzoffizieren lagen an solchen Tagen die Nerven blank, denn häufig flogen die Böller aus dem Westen über die Mauer und lösten Alarm aus. Trotz striktem Alkoholverbot waren manche der Soldaten angetrunken und so unberechenbar.

Es gab keine besonderen Vorkommnisse und Oberstleutnant Wild übergab die Aufsicht an einen zuverlässigen Untergebenen, nahm Lucas an die Leine und zog sich in der Hoffnung, dem derben Ess- und Schweißgeruch zu entgehen, auf den Kontrollturm zurück.

Die frische Luft tat ihm gut. Das Knallen mochte er nicht, dennoch störte es ihn wenig, eine ähnliche Geräuschkulisse kannte er vom Schießstand. Obwohl auch in der DDR Böller wie „Filou“ oder „Blitzschläge“ im Handel angeboten wurden, war in Josephs Elternhaus die Begeisterung dafür gering.

Die Mutter bedauerte die armen Wildtiere, die aufgescheucht wurden und dann umherirren und der Vater erinnerte sich dabei an die grausamen Raketen über den Schützengräben. An manchen Fassaden der Häuser sind noch die Einschusslöcher des Krieges zu sehen und sie „üben“ schon für den nächsten und „pulvern“ das Geld in die Luft. Eine Flasche Rotwein ist mir lieber“, meinte der Vater.

An diesem Abend war es an der Grenze fast still, verglichen mit den Jahren davor. Auch der Westen „protzte“ dieses Jahr nicht mit neuesten amerikanischen Importböllern.

Josephs Blick streifte über die Wipfel der Bäume, während seine Hand über Lucas Rücken glitt. Er fühlte sich wohl hier oben mit seinem Hund weit weg von dieser verrückten Realität.

Doch plötzlich wurde er hellwach. Was war das? Unzählige Wunderkerzen leuchteten auf der Wiese gegenüber der Grenze auf. Kreise in der dunklen Nacht, Linien. Eine Sprühkerze hüpfte auf und nieder und zeichnete ein „M“ in die Winternacht.

Marie“ sagte Joseph halblaut. Er lächelte vor sich hin.

Als Kind hatte er einmal am Silvesterabend sich aus dem Haus geschlichen und vor Maries Fenster viele Wunderkerzen, das einzige Feuerspektakel, das der Vater erlaubte, zum Sprühen gebracht.

Marie öffnete das Fenster und winkte ihm kurz zu und er war überglücklich.

Damals war die Welt noch in Ordnung“, sagte er traurig zu Lucas.