22.01.2022: Fortsetzung - Teil 12 (Letzter Teil)

An einem der folgenden Tage kam der Mann in dem schwarzen Wolga erneut bei Josephs Vater vorbei.

Nachdem sie drei Becher Wodka geleert hatten, sagte der Russe in seinem ulkigen Deutsch: „Grenze ist Problem für Sohn. Neue Rabota für Major Wild Schreibtisch in Erfurt.“

Die Versetzung ließ nicht lange auf sich warten. Seine neue Dienststelle war das Grenzkommando Süd in Erfurt. Natürlich wurde Joseph gleichzeitig für seine „Verdienste für die sowjetische Brudernation“ zum Major befördert. An seiner Tür wurde ein glänzendes Messingschild „Stellvertretender Dienstellenleiter Genosse Major Wild“ angebracht.

Auf seinem Tisch häuften sich Akten, die er „gelegentlich“ durchsehen sollte. Unter seinem Tisch in einem bequem gepolsterten Weidenkorb ruhte Lukas. Sein Parteihalsband zeigte Abnutzungsspuren, seine Lefzen und seine Augenbraun hatten ihr dunkles Braun verloren und ein weißgrauer Schleier auf dem Nasenrücken verlieh ihm die Überlegenheit und Würde eines alten Herren, der voller Stolz sein Leben gemeistert hat.

Besonders freute er sich auf die Spaziergänge im ega-Park oder im nahen Steigerwald. An sonnigen Tagen ging es manchmal nach Dienstschluss in den Zoopark. Besonders die Voliere mit den Fasanen hatte es Lucas angetan. Bei dem kleinsten Hauch von Wildduft verharrte Lucas für Minuten in seiner für Vorstehhunde typischen Pose. Menschen, oft Kinder, blieben bei dieser außergewöhnlichen Vorstellung stehen und Joseph dozierte jedes Mal, dass dies die Achtung vor einer anderen Kreatur sei, die bei uns Menschen oft abhandengekommen ist.

Die Jahre vergingen.

Den Urlaub verbrachte Joseph bei seinen Eltern. Er begleitete seinen Vater bei seinen Reviergängen und wenn Lucas einem Fasan vorstand und dieser mit einem empörten Schrei hochging, ließ der alte Mann die Flinte sinken und sagte etwas lakonisch: „Ich habe gedacht, es sei eine Henne und weibliches Wild hat bei mir das ganze Jahr Schonzeit.“ Aber auch manch kapitalen Rehbock ließ er weiterziehen mit der Begründung, dass er keine Berechtigung habe, der Natur solch ein Prachtwerk zu entnehmen.

Joseph lächelte vor sich hin, doch Lucas „verstand die Welt nicht mehr“, schließlich war er ein „hochdekorierter“ Jagdhund.

Der alte Wild lästerte dann:

„Lucas, du hältst dich gut, wahrscheinlich überlebst du deinen Gönner Honi, dem es bald an den Kragen gehen wird.“

Dabei vermieden es Vater und Sohn über Politik zu sprechen und wenn sie es doch taten, hatte scheinbar jeder das Gefühl, sich vor dem anderen rechtfertigen zu müssen, warum er zu einem Teil dieses Systems, das sich in Auflösung befand, geworden war.

Die hohlen Reden von Honecker, Mielke und Krenz waren ihnen genau so fremd wie die Losungen der Montagsdemonstrationen: “Wir sind das Volk“.

Sind auch wir das Volk?“, fragte eines Abends Joseph ironisch seinen Vater. Dieser zuckte die Achseln.

Eines Morgens beim Frühstück sagte die Mutter ganz plötzlich: „Wie ihr wisst, habe ich es bis jetzt abgelehnt in meine alte Heimat zu reisen, jetzt verspüre ich aber ein Bedürfnis endgültig Abschied zu nehmen und noch einmal die Luft unserer Felder zu atmen und die Sonne hinter dem Hügel in Böhmen aufgehen zu sehen.“

Joseph war bereit, den Wunsch der Mutter zu erfüllen und einige Tage später fuhren Mutter und Sohn, natürlich war auch Lucas dabei, los. Sie übernachteten in Prag und fuhren am nächsten Morgen nach Wahlburg zu einem kleinen Dorf mit einem tschechischen Ortsschild. Sie standen vor einem Haus, das mit einer gelblichen Farbe, die an manchen Stellen abblätterte, notdürftig gestrichen war.

Das alte Tor zierte noch immer das bronzene Schild, das der Großvater in Prag anfertigen ließ: Ein Setter in Vorstehpose mit der Innschrift:“ Hier wache ich“. Der Glanz war verblichen, es war durch die vielen kalten Winter stumpf geworden.

Eine Frau, die im Garten Unkraut jätete, bemerkte die beiden und kam auf sie zu.

Zuerst beäugte sie das fremde Auto, dann zeigte sie auf Lucas und auf das Schild am Hoftor und sagte in einem gebrochenen Deutsch: „Gleiche Hund, ich liebe Hunde“. Sie streichelte Lucas zärtlich über den Rücken.

Die tschechische Frau glaubte zuerst, dass auch sie in die deutsche Botschaft nach Prag wollten.

Joseph gelang es, der Frau verständlich zu machen, dass dies das Elternhaus seiner Mutter sei und diese das Bedürfnis hatte, das alles noch einmal zu sehen. Die Mutter stand wortlos da mit feuchten Augen, den Blick in die Ferne auf die Hügel gerichtet.

Die fremde Frau verstand nicht, was sich hier abspielte, dennoch war sie ergriffen und bat die beiden ins Haus.

Josephs Mutter bedankte sich freundlich, bat Joseph aber sie nach Hause zu fahren. Auf der Fahrt zurück sagte sie zu ihrem Sohn: „Jetzt konnte ich Abschied nehmen, danke, dass du mich begleitet hast.“

Eines Abends, als sie alle im elterlichen abhörsicheren „Schlafzimmerbunker“ saßen und das Westfernsehn eingeschaltet hatten, klopfte es an der Tür. Der Vater war aufgescheucht, machte den Fernseher aus und ging zur Tür.

Draußen stand der russische Diplomat, er war in Eile: „Friedrich, mein Freund, ich komme um Daswidanie zu sagen, ich muss zurück nach Moskau, Konetz , Ende aus. Du warst viele Jahre mein Freund, Gorbatschov wird euch die Freiheit geben, ich weiss es.“ Wie immer tranken sie ein Glas Wodka auf der Terrasse und der Russe verschwand wieder in der Dunkelheit.

In der Folgezeit überschlugen sich die Ereignisse und die Medien in Ost und West strengten sich an, um bei der Berichterstattung mithalten zu können:

Joseph staunte, denn der Schießbefehl, denn es ja offiziell nie gab, wurde aufgehoben. Er musste an die junge Frau denken, die vor seinen Augen verblutete.

Ungarische Grenzer bauten an der Grenze zu Österreich den Stacheldraht ab. Tausende brave DDR Bürger flohen über Ungarn und die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik. In Leipzig gingen die Menschen zu Tausenden auf die Straße Er sah in den Fernsehnachrichten die Bilder von Menschenmassen, die den Grenzübergang Bornholmer Straße überqueren und die Berichte von feiernden Menschen am Brandenburger Tor.

Und Major Joseph Wild, ließ ihn das alles kalt?

Bestimmt nicht, aber er war heimatlos geworden, genau wie seine Mutter damals. Diese floh Richtung Deutschland und er floh nun in seine innere Welt, die recht klein war. Er tat das, was er schon immer tun wollte. Er begann zu schreiben über grüne Wiesen, die Sonne am Morgen, den Gesang des Rotkehlchens, das Schreien der Wildgänse, die frei durch die Welt ziehen. Innere Emigration nannte man das bei Schriftstellern, die sich im Dritten Reich in sich selbst zurückzogen, weil sie nicht dazugehören wollten.

Für Joseph hatte sich alles verändert und er war müde, genau wie Lucas, den er an manchen Tagen richtig überreden musste seinen weichen Korb zu verlassen.

War das DDR-Regime gut? Bestimmt nicht. 

Ist das, was jetzt auf die Menschen zukam besser? Er wusste es nicht, es war eine Welt, die man ihm Jahrzehnte als Feindbild schilderte. Sollte er sich plötzlich in dieser neuen Welt wohlfühlen? Als er wieder in Erfurt war, wurde Major Wild von Generalmajor Teichmann beauftragt, den Abbau der Grenzanlagen zu überwachen.

Joseph schrieb einen Brief an Minister Eppelmann mit folgendem Inhalt:

Sehr geehrter Herr Minister,

"Ich habe die 1510 km lange Grenze nicht gebaut. Ich wollte sie nicht. Sie hat mich von lieben Menschen getrennt. Ich hatte aber auch nicht den Mut, den Staat und seinen Stacheldraht zu hinterfragen. Sollen diejenigen, die diese monströsen Abtrennungen errichtet haben, sie auch abtragen. Bitte nehmen sie meine Kündigung an. Hochachtungsvoll, Joseph Wild .“

Danach fuhr er mit Lucas zu seinen Eltern zurück. Er spielte mit seinem Vater Schach und half der Mutter im Garten, bis plötzlich ein Anruf seine Gedanken durcheinanderwirbelte.

Marie bat ihn um ein Treffen in Oberberg.

Er hatte sich vorgenommen den Westen nie zu betreten, doch das alles war jetzt nicht mehr wichtig.

Er nahm Lucas an die Leine, hob den alten Knaben auf den Beifahrersitz seines Lada und fuhr los. Zwischen Unter- und Oberberg waren die Grenzzäune abgetragen. Die hässlichen Betonpfeiler und der Stacheldraht waren verschwunden und Joseph fuhr einfach über die Grenze, so als hätte es sie nie gegeben. Wie einfach konnte die Welt sein, dachte er.

Halbstarke Jungs in einem schnittigen BMW überholten ihn grölend, scheinbar amüsierten sie sich über sein für sie ulkiges Fahrzeug.

Ohne Schwierigkeiten fand er das Café, das ihm Marie als Treffpunkt nannte. Da er etwas zu früh ankam, hob er Lucas aus dem Auto und nahm auf der Terrasse Platz.

Eine junge Bedienung fragte ihn nach seinen Wünschen und als er zögerte sagte sie freundlich: „Keine Sorge, für die von drüben geht alles aufs Haus. Soll ich Ihnen eine Westcola bringen oder ein schönes hessisches Bier?" Joseph lehnte dankend ab und bestellte ein Wasser.

Da hielt auch schon ein Audi Kombi vor der Gaststätte. Eine junge Frau stieg aus, gefolgt von einem kleinen Mädchen, das sofort, als sie Lucas auf der Terrasse sah auf ihn zustürzte: Du musst Lucas sein, der Vater unserer Brüder Captain und Condor.

Eine junge Frau folge ihr mit einem Setter an der Leine: "Entschuldige Joseph, meine Tochter Corinna ist impulsiv, wenn es um Setter geht."

Sie umarmte Joseph und presste sich fest an ihn: „Das wollte ich schon damals tun, als ich auf deiner Stube an der Grenze war. Das ist Captain, der Grenzgänger. Das hat er wohl von seinem Vater. Er wollte scheinbar schon damals zu dir. Jetzt sollst du ihn haben. Wir haben noch seinen Bruder zu Hause, ein friedlicher Zeitgenosse, das Gegenstück von diesem Rabauken.“

Marie versuchte zu scherzen, was ihr kaum gelang.

Sie nahmen auf der Terrasse Platz. Für Joseph überschlugen sich die Ereignisse, er konnte nicht mehr klar denken, dennoch versuchte er alles zu sortieren: Marie ist Mutter und die kleine Corinna sieht aus wie damals die kleine Marie mit den roten Bäckchen. Er dachte, ich bin zu spät, weil ich damals, nachdem wir uns wiedersahen zu feige war, ihr durch die Röhre in den Westen zu folgen oder später den Stacheldraht durchzuschneiden und sie zu suchen.“ Und ihm fiel Gorbatschows lapidarer Satz ein, von dem man gar nicht weiß, ob er ihn wirklich gesagt hat: „Wer zu spät kommt…“

Über Captain freute er sich riesig. Dieser legte, nachdem er seinen Vater abgeschnuppert hatte, seinen Kopf auf Josephs Schoß und sah ihn mit seinen kastanienbraunen Augen an.

Er wird seinem Vater das Alter leichter und mir das Leben erträglicher machen, so sind wir wenigstens nicht allein“ sagte er zu Marie.

Diese senkte den Blick und strich ihrer Tochter übers Haar.

Joseph stand auf, er verabschiedete sich von der kleinen Corinna und sagte: “Danke, dass du mir den Captain schenkst, ich und Lucas werden gut auf ihn aufpassen.“ Er reichte auch Marie die Hand.

Marie presste ihre kleine Faust in seine Handfläche, so wie sie es als Kind immer tat, wenn sie sich vor etwas fürchtete. So standen sie einen Augenblick.

Dann lösten sich ihre Hände und Joseph ging zu seinem Auto. Captain folgte ihm, so als wäre er in seiner Obhut aufgewachsen.

Eine Welt, die einst zusammengehörte und jetzt wieder, war Joseph fremd. Er fuhr in seinem alten Lada wieder zurück ins Niemandsland.

P.S.: Diese Geschichte und auch meine anderen Erzählungen finden Sie alle auch bei: https://tieremenschengeschichten.de.tl