17.02.2022: Fortsetzung - Teil 2

Holzfäller aus den thüringischen Wäldern wurden angekarrt, aber auch andere Menschen aus den Dörfern der Werra entlang. Sie wurden von Volkspolizisten begleitet und hatten die Aufgabe, das Gelände an der Grenze frei zu machen, zu glätten und einen Grenzstreifen zu ziehen.

SED-Funktionäre, die nach Unterberg kamen, erkundigten sich nach Menschen, die unzuverlässig und nicht linientreu seien. Man munkelte, dass diese in den nächsten Tagen ins Landesinnere umgesiedelt werden würden. Diese Aktion hatte den menschenverachtenden Namen „Ungeziefer“. Zwei Funktionäre erkundigten sich ausführlich bei Friedrich Wild, den sie für einen der ihrigen hielten, über seinen Nachbarn Hans Müller. Während des Gesprächs stellte sich heraus, dass sie gut informiert waren und dass sie auch über die morgendlichen „Jagdzügen“ der beiden Bescheid wussten.

Wir nehmen es ihnen ja nicht übel, dass sie ihre Familie versorgen, aber sie müssen mit uns zusammenarbeiten, da sie als Sozi seit 1946 jetzt auch zur SED gehören.“ Dies bejahte Friedrich natürlich, gelobte Zusammenarbeit und wartete nur, bis beide weggefahren waren, um über den Gartenzaun seinen Nachbar zu warnen.

Am nächsten Morgen, als Joseph Marie zum Spielen abholen wollte, war das Haus leer.

Später erfuhr man, dass Hans Müller in der Nacht seine Schwiegereltern und die beiden Schwager in Oberberg besucht habe. Es fanden sich acht mutige Männer, die ihm halfen sein gesamtes Hab und Gut über die provisorische Grenze zu bringen.

Die Partei schien aber von Friedrichs Antwort auf die Frage, ob er von dem nächtlichen Auszug der Nachbarn nichts mitbekommen habe, nicht überzeugt. Dieser versicherte, er habe versucht seine Zahnschmerzen mit Schnaps zu ertränken und fest geschlafen.

Einige Tage danach erhielt er die Mitteilung, dass ihm von höchster Stelle für zwei Jahre ein Stipendium zum Studium nach Moskau, das er nicht ablehnen könne, zugesprochen wurde.

Seine Frau war verzweifelt, doch Friedrich Wild meinte nur: „Ablehnen ist zwecklos, vielleicht warten sie gerade darauf, dass wir einen Fehler machen. Du und Joseph werdet gut versorgt sein.“

Der kleine Joseph schlich an den folgenden Tagen immer wieder ums Nachbarhaus, es konnte doch nicht wahr sein, dass seine Freundin ihn verlassen hat. Sie waren doch gestern noch zusammen Maikäfer für die Hühner sammeln.

Die Straße an der Grenze wurde immer holpriger und die Fahrt immer schwieriger. Leutnant Joseph wachte aus seinen Träumen auf und plötzlich kam er sich lächerlich in dieser Pose vor, erinnerte sie ihn doch eher an die Bonzen des dritten Reiches, denen das Volk zujubelte. Ihm jubelte niemand zu und als sie eine Anhöhe hoch fuhren, waren sie gut auf dem anderen Teil der Grenze sichtbar und prompt von einer Gruppe junger Klassenfeinde aus ihrem Ford Capri mit einem Hupkonzert begrüßt.

Er nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz, wandte sich zum Rücksitz und streichelte lange in Gedanken versunken seinen jungen irischen Setter Lucas.

Als er seine Tour beendet hatte, stieg er auf den Kontrollturm. Vorher musste er sich von einem Untergebenen die alten Witzeleien anhören: „Ach, das Schoßhündchen lebt ja noch, hatte wohl Glück, dass er den Trassenhunden nicht zu nahe kam, denn diese kennen keinen Pardon, weder mit Mensch noch Tier, das sind echte DDR-Schäferhunde.“ Da ihm die Sprüche auf die Nerven gingen, sagte er nur: „Morgen zwei Schichten für dich“ und nahm auf der oberen Etage eines Kontrollturms Platz. Mit seinem Zeiss-Fernrohr hielt er Ausschau nach den Republikflüchtigen. Oder suchte er vielleicht die Wiesen im Feindesland nach einer jungen Frau mit einem roten Hund ab, die jeden Abend einen Setter spazieren führte?

Wenn er sie sah, zoomte er sie heran, so nahe, dass er ihr Gesicht und ihre Augen sehen konnte und er hatte keine Zweifel: die gleichen Augen, dieselben Grübchen in den Wangen. Es musste Marie sein. Und wenn der Setter dann mal wieder einen Hasen hochmachte und ihm das Geleit gab, dachte er an die boshaften Worte seines Vaters: “Setter bevorzugen Frauen, weil sie diese besser austricksen können.“

Mit hereinbrechender Nacht, übergab er das Kommando an seinen Untergebenen, ging in die Kaserne, legte sich auf das Bett und dachte jeden Abend das Gleiche: „Gott bewahre uns vor einem Grenzgänger, ich will keinen Menschen töten.“ Seine Mutter, die eine gläubige Frau war, sagte immer:

„Bete, wenn du in Nöten bist, aber leise, denn nur die Gedanken sind frei.“ Und er wusste auch an diesem Abend nicht, wie er sich bei einem wirklichen Zwischenfall verhalten würde. Gut, dass er ein Zimmer für sich hatte, denn das Misstrauen der einzelnen Offiziere untereinander war groß, jeder konnte zur Stasi gehören.

Lucas nahm neben ihm Platz, drückte sich fest an ihn und so schliefen sie ein.