01.03.2022: Fortsetzung - Teil 4

Abends, wenn sie allein im Wachturm saßen, scherzte Joseph: „Wenn du ein Mensch wärst, würde ich dir mein Zeiss-Fernglas ausleihen. Die unerzogene Setterhündin im Feindesland, die eine Frau an der Leine hinter sich herzieht, ist eine wahre Pracht. Lucas hob dann die Nase und begann zu schnuppern und Joseph war sicher, dass sein roter Freund alles verstand.

Am 1. Mai, am sogenannten Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus, fuhr Leutnant Joseph mit Lucas in die Stadt.

Er trug wie die meisten Grenzer bei ihren seltenen Ausgängen keine Uniform. Die Beliebtheit der „Elitetruppe“ hielt sich bei den Genossen in Grenzen. Bei einem Tanzfest - Lucas lag brav ohne Leine unter einem Biertisch - lernte er die FDJ-Sekretärin der Gegend kennen.

Diese war wenig zimperlich und lud ihn sofort zu sich in die Wohnung ein. Im Treppenhaus zeigte sie Joseph eine Stelle, wo er Lucas anleinen könne. Damit endete die Liebelei, bevor sie begonnen hatte.

Bei einer hübschen Genossin auf einem LPG-Fest waren es die Katzen, die Lucas durch das Haus scheuchte. Die Krönung seiner Störmanöver leistete sich Lucas, als er bei einem gemütlichen Spaziergang am Bach Josephs Auserwählte schockte, indem er einer Ente hinterher schwamm und das nasse Federvieh der jungen sensiblen Kunststudentin vor die Füße legte. Du machst mich zum alten Junggesellen mit deiner flegelhaften Art“, schimpfte Joseph, um dann am Abend sein Fernglas zur Hand zu nehmen und die „kapitalistischen“ Wiesen abzusuchen.

Ohne große Aufregung verging ein Tag wie der andere. Acht Stunden Dienst, acht Stunden Bereitschaft, acht Stunden Schlaf. Besondere Vorkommnisse gab es kaum: ein eingeschlafener Grenzposten, der in den Bau musste, Missachtung des Rauchverbots beim Dienst, Streit schlichten zwischen den Soldaten und wieder war für die Betroffenen Bau fällig.

Doch dann kam der Tag, den Joseph nie vergessen würde. Seine Gruppe hatte an diesem Abend Bereitschaft. Er hatte den Kontrollgang abgeschlossen und war gerade dabei „keine besonderen Vorkommnisse“ in seinen Bericht zu schreiben, als das Sirenengeheul ihn aufschreckte. Leuchtraketen tauchten den Grenzstreifen in ein grelles Licht, dann folgte eine Gewehrsalve. Joseph stürzte zur Tür hinaus und trommelte seine Mannschaft zusammen.

Das Bild, das sich Joseph bot, war grauenvoll. Eine junge Frau lag blutüberströmt auf dem Grenzstreifen. Sie schrie vor Schmerzen. Neben ihr kniete ein Grenzsoldat und stammelte immer wieder: „Bitte vergeben sie mir, ich wollte doch nur einen Warnschuss abgeben.“

Joseph versuchte die Frau aufzurichten, doch sie sank immer wieder in sich zusammen, dabei flüsterte sie mit schwacher Stimme: „Ich wollte doch nur zu meinem Mann. Wir haben in Ungarn am Plattensee geheiratet. Ich trage sein Kind in mir.“

Joseph sah verzweifelt in die Runde: „Wo sind die Sanitäter? Schafft sie endlich herbei“, schrie er mit heiserer Stimme. Als diese kamen war es zu spät. Die Frau starb in Josephs Armen.

Am nächsten Morgen erfuhr man, dass sich der Schütze in der Nacht erschossen habe. Es war ein junger schmächtiger Mann, der so gerne Musik studieren wollte. Er hatte sich freiwillig zur Grenze gemeldet, um anschließend zum Studium zugelassen zu werden.

Am nächsten Tag kam General Oberst Erich Franz aus Berlin. Leutnant Joseph Wild erhielt vorher einen Anruf, er solle alle dienstfreien Grenzsoldaten für Punkt 12 Uhr zum Appell antreten lassen.

Leutnant Joseph Wild erstattete Bericht: Vorkommnisse der letzten Nacht: Zwei Todesopfer, ein Grenzsoldat und eine Privatperson. Der Generaloberst winkte ab, zog ein Papier aus der Tasche und las: „Fähnrich Ulf Fink hat durch seinen Heldenmut einen Grenzdurchbruch von Ost nach West verhindert. Die DDR-flüchtige Person wurde von ihm gestellt. Sein heldenhafter Dienst für die deutsche demokratische Republik macht uns stolz. Er ist in Erfüllung seiner patriotischen Pflicht gestorben. Am 1. Dezember, dem „Tag der Grenztruppen“, werden wir seiner gedenken“.

Scherzhaft fügte er hinzu: „Auf Salutschüsse werden wir hier verzichten, sonst glaubt der imperialistische Westen, dass wir ihn angreifen.“

Er warf einen Blick auf Lucas, der sich für die Vorträge nicht zu interessieren schien und gemütlich in die Sonne blinzelte. Der Hund missfiel ihm und so grunzte er beim Warten auf seinen Fahrer, der dabei war, die Hintertür des schwarzen Moskwitsch zu öffnen: „Du taugst nicht als Trassenhund, weil dir der Biss fehlt und als Jagdhund verwechselt man dich mit einem Reh.“

Und die tote, namenlose, vergessene Frau?

Auf der anderen Seite der Grenze wartete ein Mann tagelang vergebens.

Der Oberst war bereits eingestiegen, doch das Fahrzeug fuhr nicht los. Alle standen in Reih und Glied aufgereiht mit der Hand an der Mütze um den Gast zu verabschieden.

Dieser unterhielt sich mit seinem wild gestikulierenden Adjutanten, von dem alle wussten, dass er zur Staatssicherheit gehörte, im Inneren des Wagens. Plötzlich stieg der Oberst wieder auf aus, wandte sich mit folgenden Worten an Leutnant Wild: „Genosse Wild, ich suspendiere Sie mit sofortiger Wirkung vom Dienst. Sie haben Sympathie zu einer Republikflüchtigen gezeigt und erste Hilfe geleistet, das ist untersagt. DDR-Flüchtlinge sind Verbrecher. Ihr Stellvertreter übernimmt ab sofort all ihre Pflichten.“

Joseph wagte zu erwidern: „Es war eine schwer verletzte schwangere Frau.“

Also zwei Flüchtige“ sagte der Oberst. Er stieg ein und das Auto setzte sich in Bewegung.