20.03.2022: Fortsetzung - Teil 5

Joseph übergab alle Protokolle seinem Untergebenen, tauschte die Uniform gegen einen schlichten Anzug, nahm Lucas an die Leine und ging zum Bahnhof. Einige der Soldaten riefen ihm hinterher: „Wild, du bist ein Verräter“. Die Fahrt mit dem Zug zu seinen Eltern war durch das zweimalige Umsteigen recht mühsam. Mit dem Dienstwagen brauchte er vorher nur eine knappe Stunde. Er traf am späten Nachmittag zu Hause ein. Als er das Tor öffnete, traute er seinen Augen nicht. In der Einfahrt stand ein schwarzes Fahrzeug mit Diplomatennummer. Auf der Veranda saß sein Vater und trank Wodka mit einem schwarz gekleideten Mann. Dieser rief ihm zu: „Syn moyego druga, Sohn von Freund, was für ein roter sobaka hast du, ist sicher russisch. Lass hier be tvoy Vater. Er macht Schmutz in mashinui. My idem v kazarmy, fahren zurück. Joseph konnte nicht antworten. Er sah seinen Vater an, dieser nickte. Er umarmte seine Mutter und sie fuhren los. Die ganze Strecke sprach der unheimliche Mann kein einziges Wort.

Als sie in der Kaserne ankamen, war es fast dunkel und dennoch standen alle in Reih und Glied. Selbst der Oberst, der wieder angereist war, riss die Hacken zusammen und salutierte. Der Diplomat würdigte ihn keines Blickes. Zu Joseph sagte er: „Zieh uniformu an, naden'te uniformu leytenant“.

Er küsste Joseph nach russischem Brauch auf die Wange, drehte sich zu Oberst Franz und brüllte ihn an: „Mach keine Fehler Genosse Oberst, ich lasse für dich Gulag in Sibirien wieder aufbauen. Die Sowjetunion ist groß und wir sagen dir, was gut oder schlecht ist.“ Er zwinkerte Joseph zu, stieg in den Wagen und der Fahrer fuhr los.

Oberst Franz winkte seinen Fahrer herbei, murmelte mit finsterer Miene zu Joseph: „Nichts für ungut Leutnant Wild, nehmen Sie sich in Acht“ und weg war er.

Natürlich löste der Diplomatenbesuch bei Friedrich Wild im Dorf heftige Spekulationen aus: Wild ein KGB Spion, Wild als zukünftiger Außenminister der DDR? Andere glaubten zu wissen, dass der alte Wild als junger Mann bei seinem Studium in Moskau durch einen waghalsigen Sprung in die Moskwa dem Kind eines hohen Regierungsbeamten das Leben gerettet habe. Letztere Variante könnte der Wahrheit näher kommen.

Für Leutnant Joseph Wild war diese Demütigung durch seinen Vorgesetzten eine Wende in seinem Leben. Das Heitere und Leichte, das trotz dieses grotesken Dienstes in ihm schlummerte, war über Nacht verschwunden. Besonders die Schadenfreude seiner Untergebenen bei seiner Suspendierung nagte in ihm.

Zu seinem Setter Lucas blieb er weiterhin freundlich. Wenn sie abends allein im Zimmer waren, sprach er mit ihm. Oft war es belangloses Zeug oder es waren Kindheitserinnerungen an die Zeit mit Marie in Unterdorf. Lucas hörte aufmerksam zu und man konnte glauben, dass er alles verstand, denn bei Geschichten, die auch ihn betrafen, begann er plötzlich mit der Rute zu wedeln. Oft erzählte er Lucas auch wie schön es wäre, mit der jungen Frau mit dem Setter durch die grünen Wiesen einer freien Welt zu laufen. Wenn er dann den Finger auf den Mund legte und zu Lucas sagte: „Unser Geheimnis“, fiepte dieser, so als hätte er alles verstanden.

Im Alltag war Joseph wie ausgewechselt. Er hatte endlich das begriffen, was viele Menschen aus den Ostblockstaaten ausmachte: eine strikte Trennung zwischen Innen- und Außenleben.

Nach außen verkörperte Leutnant Wild den DDR-Offizier, der Wert auf strikten Dienst nach Vorschrift legte.

Unpünktlichkeit bei Dienstantritt bedeutete für die Soldaten Streichung des Ausgangs für einen Monat; Trunkenheit bedeutete drei Tage Arrest. Einschlafen während des Grenzdienstes bedeutete Verlust des Urlaubs.

Er führte die gefürchteten Politabende mit Frage-Antwort-„Spiel“ wieder ein.

Wenn Fragen wie „Warum müssen wir die DDR-Grenze beschützen?“ lapidar mit „um Flüchtlinge zu erschießen“ von einem Soldaten beantwortet wurde, betraf die Reglementierung nicht nur den Betreffenden, sondern auch seinen Zugführer. Beide mussten hundert Mal den Satz „Verletzung der Grenze von Ost nach West durch Saboteure und Reaktionäre aus dem Westen müssen verhindert werden. DDR-Flüchtige sind zu stellen“ schreiben.

Natürlich führte diese Maßnahme dazu, dass das Verhältnis zwischen Fähnrichen und den Untergebenen nicht das Beste war. Hass, Misstrauen und Verpetzen waren an der Tagesordnung.

Besonders schlecht kamen bei ihm die Söhne des Staatsicherheitsapparats weg. Oft prahlten diese verwöhnten Jasager mit der Tätigkeit der Eltern. Für sie war der Grenzdienst nur ein Sprungbrett für einen Studienplatz und deshalb waren sie bemüht sich anzubiedern und zu gefallen.

Leutnant Wild scherte sich wenig darum, Hauptsache war, dass die Stasispitzel in der Kaserne sein Durchgreifen zum Wohle des Arbeiter- und Bauernstaates an ihre Vorgesetzten weitergaben, was natürlich regelmäßig erfolgte. Eine Beförderung ließ bei einem derartigen Pflichtbewusstsein nicht lange auf sich warten.