0.03.2022: Fortsetzung - Teil 6

Oberleutnant Wild wurde jetzt mit anderen Aufgaben betraut. Er übte ab sofort auch Kontrollfunktionen über andere Grenzsektionen aus. Die Auseinandersetzungen mit dem „Fußvolk“ blieben ihm erspart.

Ihm stand ab sofort ein geräumiges möbliertes Zimmer zur Verfügung.

Bei seinen „Dienstfahrten“ verzichtete er manchmal auf seinen Fahrer, so dass er zwischendurch an einem stillen Ort anhalten und mit Lucas einen Spaziergang machen konnte.

Private Gespräche mit Soldaten lehnte er ab. Er hasste geradezu Menschen, die versuchten durch Schmeicheleien sein Wohlwollen zu erkaufen.

Er erinnert sich immer wieder an die Worte, die sein Vater ihm bei Dienstantritt mitgab:“ Suche dir deine Freunde selbst aus und sei vorsichtig und wählerisch. Halte Menschen auf Abstand, die dich angeblich bewundern, sie erhoffen sich nur Vorteile, du bist ihnen egal, sie werden dich eiskalt verkaufen. In dieser Welt gibt es viele Denunzianten, benutze sie, aber halte sie immer auf Abstand.“

Joseph war oft einsam, doch nie allein, denn er hatte Lucas, der stets an seiner Seite war.

Und da waren ja auch noch die Besuche bei seinen Eltern. Joseph genoss diese Tage. Am liebsten saß er mit seiner Mutter auf der Veranda und lauschte ihren Geschichten über den Bauernhof ihrer Eltern im Sudetenland. Herrliche Wälder, Flussauen in einem satten Grün mit weidenden Kühen, ein Garten voller Geflügel; eine beschauliche Welt, bis die Russen kamen und über das Gartentor hinweg zwei der drei Jagdhunde des Vaters erschossen. In der gleichen Nacht packte die Familie ihren Leiterwagen und sie fuhren los.

Wenn der pompöse russische Freund des Vaters auftauchte, blieb sie höflich, doch sie mochte ihn nicht.

Oft pflegte sie zu sagen: „Die Welt kann man nicht durch Arbeitslager besser machen, sondern nur durch Bildung.“ Was würde ein Dostojewski, Tolstoi, Gogol, Bulgakow oder ein Puschkin denken, wenn sie diese „armselige Diktatur des Proletariats“ und die „geschundene russische Seele“ erleben müssten?“

Joseph war verblüfft über derartige Aussagen der Mutter und er fragte sie, woher sie all diese Autoren kenne und sie bemerkte nur, dass diese Schriftsteller genau wie Goethe und Schiller auch ihren Platz in der Weltliteratur hätten.

Die heutige Jugend kennt solche Bücher nicht, dafür müssen junge Menschen einen Strittmatter lesen oder sie werden mit Theorien über den „Sozialistischen Realismus“- eine groteske Erfindung der Kulturfunktionäre-„ gefüttert“, fügte sie hinzu.

Auch Lucas schienen solche Gespräche zu interessieren. Oder lauschte er nur so andächtig den Worten der Mutter, weil sie fast zufällig einen Belohnungshappen fallen ließ?

Allein der Vater wurde bei solchen Gesprächen unruhig und von Zeit zu Zeit schlug er vor, das Thema weiter im abhörsicheren „Schlafzimmerbunker“ weiterzuführen.

Irgendwie schien der Vater mit seinen Gedanken weit weg zu sein.

Als ihn Joseph endlich fragte, was los sei, platzte es aus ihm heraus: „In einer Woche soll hier eine Treibjagd zu Ehren unseres großen Genossen Honecker stattfinden. Die Maisernte ist noch in vollem Gange und die Zuckerrübenernte ist auch noch nicht abgeschlossen. Gestern erhielt ich die Anweisung, den Mais samt Kolben einzuackern, damit alles „blitz-blank“ sei. Es ist ein Verbrechen. Da müht man sich ein ganzes Jahr mit dem Getreide ab, um vor der Ernte mehr als zehn Tonnen Mais zu verscharren, damit die Optik stimmt. Übrigens ist der Genosse Oberleutnant Joseph Wild auch als Schütze eingeladen, welch eine Ehre. Ich soll den Treiber machen. Gut, dass der Dorfarzt mir bereits eine Verstauchung des linken Köchels bescheinigt hat“, fügte er spöttisch hinzu.

Bevor sich Joseph verabschiedete, nahm er seine Mutter, die er bedingungslos liebte, in den Arm und flüsterte ihr zu:

Ich verspreche dir, Mutter, in meinem nächsten Urlaub werden wir beide den Ort deiner Kindheit und Jugend besuchen. Die Tschechoslowakische Republik ist jetzt unser kommunistisches Bruderland und ein Visum dürfte für mich kein Problem sein“.

Er war überrascht als sie ihm mitteilte, dass sie dies nicht wünsche: „Ich will die Bilder meiner Kindheit nicht zerstören durch eventuelle unangenehme Überraschungen“, sagte sie, was ihr Sohn durchaus verstand.

Lucas lag jetzt entspannt bei den anderen Hunden, er schien zu schlafen, doch mit einem Auge beobachtete er ständig Joseph, denn es könnte ja das Zeichen zum Aufbruch geben. Als dieser seine Jacke überzog, war Lucas plötzlich hellwach. Das fiel auch der Mutter auch und sie meinte, dass Hund und Herr ein hervorragendes Team seien, da Lucas jede kleine Geste Josephs verstand.