10.04.2022: Fortsetzung - Teil 7

Da Oberstleutnant Wild freitags noch Dienst hatte, fuhr er Samstagmorgen nach Hause zurück, um bei der Treibjagd dabei zu sein. Es stand außer Frage, dass ein Fernbleiben für ihn Konsequenzen bedeutet hätte. Schweren Herzens nahm er auch Lucas mit, denn er kannte all die traurigen Geschichten, dass bei solchen Veranstaltungen die schießwütigen Teilnehmer nicht selten einen Irischen Setter mit einem Reh verwechselt hätten. Auf der Fahrt hielt Joseph seinem Gefährten eine Standpauke nach der anderen, dass dieser stets in seiner Nähe zu bleiben habe, und dass kein Wild so verführerisch rieche, um diese Regel zu brechen.

Als sie durch die Hauptstraße des Dorfes fuhren, sah dieses wie verwandelt aus. Junge Pioniere in weißen Hemden mit blauen Halstüchern hielten Plakate mit der Inschrift „Wir kämpfen um hohe Lernergebnisse“ hoch, andere versuchten eifrig die Grundschüler in Reih und Glied am Straßenrand aufzustellen.

Überall gab es Plakate mit Honeckers Gesicht und dazu passende Losungen: „Vorwärts immer, Rückwärts nimmer.“

Meinem Friedensstaat, meine Friedenstat“, Joseph musste dabei unweigerlich an die getötete Frau an der Grenze denken.

Zwei junge Frauen hielten ihre Losung „Folgt dem Beispiel unserer Partei, arbeitet und lebt sozial“ so hoch, dass sie umkippte und die Kleinsten überdeckte. Zwei Kinder rannten in Panik davon.

Zwei Freunde seines Vaters aus der LPG trugen ein Schild: „Gute Qualität in der Arbeit ist ein Beitrag zur Stärkung der DDR“.

Joseph wurde zur Seite gewinkt. Er hielt seinen Lada an und stieg aus. Im gleichen Moment brauste die Autokolonne des Personenschutzkommandos in ihren Tschaikas vorbei. Es folgten „fremdartige Geschöpfe“ aus kapitalistischer Produktion (Volvo, Mercedes G, Citroen CX Prestige, Toyota), die Fahrzeuge der Diplomaten und hohen Funktionäre, gefolgt von einem lindgrünen Range Rover mit einem massiven Rammschutz, elektrischer Seilwinde und großen Scheinwerfern. Ein blasses Gesicht mit schwarzer Hornbrille auf dem Rücksitz schien zu winken. Oberleutnant Wild schlug automatisch die Haken zusammen und salutierte.

Als Nachhut folgten zwei Aro Geländewagen mit Wachleuten.

Zurück blieben in Staub eingehüllte Trabis und Wartburgs am Straßenrand und Menschen, die ihre Losungen zusammenrollten und sich auf den Rest des freien Tages freuten. Die Kinder packten ihren Fußball aus und verschwanden auf dem Bolzplatz des Dorfes.

Oberstleutnant Wild war vorerst einmal beschäftigt den aufgeregt kläffenden Lucas zu beruhigen, denn diesem war das alles nicht geheuer.

Joseph stattete seinen Eltern einen kurzen Besuch ab. Nachdem er seine Uniform durch die Jagdkleidung ausgetauscht hatte, fuhr er ins Jagdrevier. Er fuhr an kahlen „abrasierten“ Feldern vorbei. An manchen Stellen wurde das Maisstroh mit den reifen Kolben nicht ganz untergepflügt und Joseph musste an die traurigen Worte seines Vaters denken.

Nach zweimaliger Ausweiskontrolle wurde er den Schützen zugeteilt und er durfte das riesige Jagdzelt betreten. Massive Stützpfeiler aus Metall, die Wände und der Boden mit Tannenreisig bedeckt. Ein Duft von frisch geschlagenen Tannen übertönte den Zigarettenqualm. Etwas abgelegen gab es das Zelt der Treiber, das weniger aufwendig ausgestattet war. Nach einigen Minuten wurde Oberstleutnant Wild an den Ehrentisch gebeten.

Er trat an den Tisch und salutierte in perfekter Manier.

Der Mann mit der schwarzen Hornbrille blätterte in seinen Aufzeichnungen. Als er den Namen fand, sah er hoch: „Genosse Oberstleutnant Wild, nach Aussagen unseres russischen Freunds sollen Sie einer der Besten sein. Als Offizier der Grenztruppe kämpfen Sie am antiimperialistischen Schutzwall an vorderster Front. Waidmannheil, Genosse Oberstleutnant. Abtreten.“ „Danke der Ehre, Genosse Staatsratsvorsitzender“ erwiderte der junge Grenzoffizier.

Erst dann sah Honecker Lucas, der an der linken Seite seines Herrn artig in der Sitzposition verharrte.

Aber was wollen Sie denn bei einer Großwildjagd mit diesem Hühnerhund?“ Joseph strich Lucas über den Kopf und erwiderte: „ Er ist jeder Aufgabe gewachsen und hat meine Erwartungen stets erfüllt.“ Der Oberstleutnant schlug die Hacken zusammen, salutierte und zog sich zurück. Das Gelächter am Tisch bekam er nicht mehr mit, aber er fragte sich, ob er mit Lucas nicht zu sehr „aufgetragen“ habe.

Nach der Vorstellung aller Gäste rief der Jagdleiter die Beteiligten zum Aufbruch auf: Sputet euch ein bisschen, ihr wisst, Genosse Mittag will um 18 Uhr seinen ersten Hirsch schießen.“ Der Witz schien angekommen zu sein und alle setzten sich in Bewegung.

Am Waldrand mit Ausblick auf eine ausgedehnte Wiese befanden sich die Kanzeln.

Für die hohen Parteifunktionäre und die honorigen Staatsgäste wurde eine Tribüne aufgestellt mit bequemen Sitzen und einer Balustrade zum Auflegen der Waffen. Oberstleutnant Wild und die anderen Offiziere verteilte man auf Hochsitze im gebührenden Abstand zur Ehrentribüne.

Plötzlich vernahm man Treiberlärm und etwas später wurde ein Rudel stattlicher Rothirsche, die aus ungarischen Gehegen stammten, auf die Wiese getrieben. Die Tiere, die kaum in der Lage waren richtig zu laufen, blieben erschöpft in der Mitte der Wiese vor der Ehrentribüne stehen. Und nun begann ein ohrenbetäubendes Geknalle und vielee Hirsche brachen an Ort und Stelle zusammen, andere schleppten sich noch trotz Verletzungen ins Dickicht des Waldes.

Joseph dachte, dass dies Zustände wie im Mittelalter bei den Jagden der Feudalherren wären und ihm fiel das Gedicht aus Sturm und Drang von G. A. Bürger ein: Wer bist du Fürst? Wer bist du, dass, durch Saat und Forst, das Hurra deiner Jagd mich treibt, entatmet, wie das Wild?“ Er liebte als Jugendlicher diese literarische Epoche des 18. Jahrhunderts voller Gefühle und Aufbegehren. Hatte sich die Welt nicht weiterentwickelt?

Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei. Eine eisige Totenstille überzog die Natur.

Zur Jagd gehörte auch das Dinner im Jagdzelt. Es bestand aus erlesenen Wildspezialitäten und bot für die Teilnehmer Gelegenheit zu diskreten Geschäftsabschlüssen. Die meisten der honorigen Gäste hatten sich schon in das grüne Jagdzelt zurückgezogen, um einen Aperitif einzunehmen.

Doch diesmal war es anders. Der kapitale ungarische Sechzehnender, den man Honecker vor die Flinte trieb und den er erlegte, war wie vom Erdboden verschwunden. Man wussten aber, dass der Staatsratsvorsitzende alle von ihm erlegten Tiere fotografiert und kategorisiert wissen wollte und dass er dabei ein richtiger Pedant war. Oft schoss er in einer Jagdsaison mehr als hundert Rothirsche.

Zu allem Übel waren an diesem Tag einige der Hundeführer schon zurück ins nahe Jagdhotel gefahren, denn das Gekläffe der Hunde würde die Unterhaltung stören. Es wurde langsam dunkel. Der hektische Jagdleiter sah Lucas an Josephs Seite und bat Oberstleutnant Wild mit seinem Hund bei der Nachsuche mitzuhelfen.

Alle Hunde wurden auf der Wiese angesetzt. Die Bracken an langer Schleppleine versuchten mit tiefer Nase Spuren aufzunehmen, doch das war bei dem vorherigen Gemetzel nicht einfach, da es viele Blutspuren gab.

Lucas richtete seine Nase in den Wind und stürmte los. Joseph folgte ihm, was bei dem Tempo des Hundes nicht einfach war.

Prompt kam der bissige Kommentar des Jagdleiters: „Der störrische Rote ist weg auf Nimmerwiedersehen!“

Auf einer Lichtung fand Joseph Lucas. Er stand regungslos vor einem Gebüsch. Von Zeit zu Zeit bellte er kurz, um seinem Herrn den Standort anzuzeigen.

Das traurige Bild, das sich Joseph bot, wird er nie vergessen. Er sah einen mächtigen Hirsch mit riesigem Geweih. Das Tier lag im hohen Gras. Als es Joseph sah, hob es seinen Kopf und blickte ihn an. Es war ein durchdringlicher Blick eines edlen Geschöpfes, das scheinbar nicht verstand, warum die Spezies Mensch, die ihn jahrelang versorgte, heute tötete.

Als die anderen Hundeführer mit dem Jagdleiter ankamen, war der Hirsch bereits tot.

Joseph saß auf einem Baumstumpf, Lucas lag neben ihm und beide blickten in die großen Augen des Hirsches, die sich nicht schließen wollten.