01.03.2022: Fortsetzung - Teil 8

Einige Wochen waren vergangen, Joseph und Lukas lebten wieder in ihrem Offizierszimmer in der Grenzkaserne, da erreichte Joseph ein Brief aus Berlin. Der Brief enthielt ein Schriftstück von dem Jagdleiter, dem zuständigen Minister Mielke und dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker unterzeichnet mit folgendem Inhalt:

Der irische Setter Lukas hat durch seinen jagdlichen Einsatz bei der Nachsuche, geführt von Oberstleutnant Joseph Wild, das Waidwerk unseres Staatsratsvorsitzenden gekrönt und den kapitalsten Hirsch, den er je erlegt hatte, durch Totverbellen angezeigt. Eine silberne Plakette an der Trophäe wird stets daran erinnern.

Ab sofort trägt der Rüde den Titel „Held der sozialistischen Arbeit“ und dieser

ausgezeichnete Hund steht unter dem Schutz des Staates. Seine Ernährungs- und Tierarztkosten werden vom Staat getragen. Die Tötung oder Verletzung des Tieres wird unter Strafe gestellt. Das beiliegende Halsband in den Staatsfarben der DDR mit dem Namen des Besitzers Genosse Oberstleutnant Wild ist ein Beweis unserer Anerkennung.

Als am folgenden Wochenende Joseph seine Eltern besuchte und über die Auszeichnung von Lukas berichtete, amüsierte sich sein Vater prächtig. Er verneigte sich vor dem sozialistischen Helden Lucas und sagte ihm eine glänzende kommunistische Karriere voraus.

Sonntagabend kehrte Joseph in die Grenzkaserne zurück, hängte eine Kopie der Urkunde an die Mitteilungstafel, rief anschließend die Soldaten zusammen, legte Lucas vor versammelter Mannschaft das Halsband an und erinnerte seine Untergebenen daran, dass er erwarte, dass ab sofort seinem Hund, die Achtung zu teil werde, die ihm zusteht und er ergänzte:

„Dem Setter Lucas steht ab sofort jede Bewegungsfreiheit zu. Der Leinenzwang für den prämierten „Parteihund“ ist aufgehoben. Eine Verwechslung mit einem anderen Hund oder Wildtier ist durch das Halsband unmöglich. Witzeleien oder Späßchen auf Kosten von Lucas bedeuten Bunker. Seine körperliche Unversehrtheit steht an erster Stelle. Zuwiderhandlungen bedeuten Militärgericht.“

Als Joseph wieder allein in seiner Stube war, musste er erst einmal kräftig lachen. Er stellte sich immer wieder die Grenzsoldaten vor, die sich seinen Vortrag mit verdutzten Gesichtern anhörten.

Abends saß er auf seinem Wachturm und beobachtete mit seinem Fernglas die Wiesen im „Feindesland“. Und wieder sah er die junge Frau, die verzweifelt versuchte ihren Setter anzuleinen. Sie schien auf ihn einzureden und er ließ sie auch bis auf einen Meter an sich herankommen, um dann das Weite zu suchen. Joseph amüsierte sich köstlich bei diesem Anblick und dachte nur: „Lucas würde ich das nicht durchgehen lassen.“

Leider holten ihn in den nächsten Tagen seine selbstsicheren Gedanken ein, denn nach dem Abendspaziergang hob plötzlich Lucas seine Nase in den Wind, er schien mit seinen Lefzen die Witterung zu kauen, er begann zu winseln und plötzlich war er verschwunden.

Joseph pfiff mit seiner Trillerpfeife, was das Zeug hielt, doch der Rotschopf war nirgends zu sehen.

Ein Stück Wild? Unwahrscheinlich, denn der gut ausgebildete Jagdhund war gehorsam und Hetzen war nicht seine Sache.

Joseph ging zum Wachturm zurück, beauftragte zwei Grenzer, die Botschaft an alle Wachsoldaten weiter zu geben, dass der „Parteihund“ Freigang habe und jeder verpflichtet sei, dafür zu sorgen, dass dieser unbeschadet zu seinem Besitzer zurückfinde. Er ließ sich seine Verärgerung und Enttäuschung über seinen „Streuner“ nicht anmerken, nahm sein Fernglas, um den Kontrollstreifen zu beobachten, denn an einigen Stellen des Zaunes gab es Öffnungen zum Durchgang des Wildes. Dadurch wollte man verhindern, dass „falscher Alarm“ ausgelöst wurde.

Auf dem Kontrollstreifen war kein Hund zu sehen, aber der Anblick, der sich ihm bot, als er sein Fernglas über die Wiesen jenseits des Zaunes schweifte, ließ ihm den Atem stocken: Zwei Setter tobten über die Wiese. Sie jagten sich gegenseitig hielten inne, legten die Vorderpfoten auf den Boden, musterten sich, um dann ihren wilden Tanz fortzuführen.

(Auf die Technik von Zeiss –Jena ist Verlass und Joseph war nah am Geschehen.)

Die Frau versuchte die Hündin am festzuhalten, was ihr nicht gelang, dann fasste sie den Rüden am Halsband, schien inne zu halten, ging in die Hocke und studierte scheinbar die Gravur. Plötzlich lachte sie, ihr wurde scheinbar einiges klar. Im gleichen Augenblick riss sich der Rüde los, stürmte zur Hündin und dann war es geschehen. Die Frau ging zu beiden Hunden strich ihnen mit der Hand über den Kopf und wartete geduldig bis sie sich lösten. Sie leinte die Hündin an und ging Richtung Dorf. Beide drehten sich noch einige Male um und sahen zurück. Die vorher von Leben pulsierende Wiese war jetzt leer. Die Frau hob die Hand und winkte Richtung Niemandsland. Es war ihr bewusst, dass diese Geste nirgends ankam.

Oder doch?

Joseph ließ sein Fernglas sinken, stieg den Wachturm hinab und traute seinen Augen nicht, denn im Gras lag ein kräftig hechelnder schuldbewusster Lucas. Er strich dem hoch dekorierten „Republikflüchtling“ sanft über den Oberkopf, leinte ihn an und ging mit ihm in seine Stube. Lucas leerte eine Schüssel Wasser und legte sich auf seine Decke. Joseph dachte: Leben kann so schön und ehrlich und ohne Grenzen sein. Fontane würde mit

Wüllersdorf sagen: “diese Tiere sind uns über.“