10.12.2022: Fortsetzung - Teil 9

Ost Berlin, die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Joseph kannte sie kaum. Vor Jahren war er einige Male bei Offizierstagungen nur kurz in Ost Berlin.

Jetzt wollte sich der Mann aus dem „Niemandsland“ einige Tage Zeit nehmen, um die Stadt mit ihren Museen und kulturellen Einrichtungen besser kennen zu lernen.

Doch gab es so viel Neues in Ost Berlin?

Auf den Straßen fuhren noch immer die gleichen Trabis und Wartburgs. Vor den Lebensmittelläden standen noch immer die Menschen Schlange. Er schlenderte über den Alexanderplatz und sah fast fünfzig, hauptsächlich Frauen, die sich in das „Centrum Warenhaus“ drängten. Neugierig folgte er der Menge und stellte fest, dass es um nichts Weiteres als Bananen ging.

In einem Café in der Nähe wollte er eine Berliner Weiße trinken, als er plötzlich von zwei Polizisten in Zivil gebeten wurde, sich auszuweisen. Er schob seinen Offiziersausweis hin, die beiden entschuldigten sich und verschwanden. Wahrscheinlich tun sie nur ihre Pflicht dachte er, und dennoch überkam ihn ein leichtes Unbehagen.

An den Schaukästen der Kinos gab es Plakate mit Westfilmen und Sergio Leones „Es war einmal in Amerika“ war der große Renner.

An der Kasse des Berliner Ensembles wollte er seine Karte für die „Galilei Aufführung“, die auf dem Offizierskontigent hinterlegt war, abholen. Seine Enttäuschung war groß, als ihm eine junge hübsche Frau an der Kasse erklärte, dass „Galilei“ durch das Lehrstück „Die Tage der Kommune“ ausgetauscht wurde. Darauf hatte er keine große Lust. Als die Kassiererin seine Enttäuschung merkte, riet sie ihm, im Palast der Republik das „Festival des politischen Liedes“ zu besuchen. Sie könnte für ihn an der Kasse eine Karte zurücklegen lassen .Das Konzert sei etwas ganz Besonderes und sie flüsterte ihm die Namen Udo Lindenberg und Harry Belafonte ins Ohr.

Ihre Nähe faszinierte ihn und er sagte spontan: „Wenn sie mich begleiten, bin ich bereit.“ Darauf war die junge Frau wahrscheinlich nicht gefasst und sie überlegte kurz, tätigte einen Anruf und stimmte zu. Später sagte sie ihm, dass es für sie als seine Begleitung eine einmalige Chance war, diese Veranstaltung zu besuchen, denn es war bekannt, dass das Publikum nur aus jungen Funktionären und Offizieren bestand. Diese wurden mit Bussen angekarrt, die sich auf dem Parkplatz brav aneinanderreihten.

Sie trafen sich am Abend im Foyer des Palastes der Republik. Joseph war von der Eleganz und dem Ambiente beeindruckt: Teure Ledersessel mit jungen knutschenden Menschen, aber auch einige „ältere Semester“ waren darunter.

Udo Lindenberg bemühte sich mit seinen pazifistischen Texten und seiner rauchigen Stimme ein Zeichen für den Frieden zu setzen und die jungen Menschen zu bewegen, was ihm kaum gelang.

Enttäuscht verließ er bei artigem Applaus die Bühne. Die Reaktion des Publikums war für Oberstleutnant Joseph selbstverständlich, da er dieses eifrige Klatschen von vielen Veranstaltungen kannte. Seine Begleiterin schien mehr erwartet zu haben. Ihre Unzufriedenheit ließ Joseph vorsichtig werden. War es vielleicht eine Genossin, die ihn unter die Lupe nehmen sollte. Er wurde etwas eintönig. Daraufhin verschwand sie auch schnell mit der Begründung, ihre Tochter, die sie vorher nicht erwähnte, würde auf sie warten.

Am nächsten Morgen wollte Joseph seinen Studienfreund Egon Schramm, der in einer Offizierswohnung in der Bouchéstraße untergebracht war und am Brandenburger Tor die Plattform für Staatsgäste mit seinen Grenzsoldaten überwachte, besuchen.

Da er Egon nicht zu Hause antraf, beschloss er seinen Freund an seinem Arbeitsplatz zu überraschen. Er schlenderte auf das Brandenburger Tor zu und hielt Ausschau nach den Grenzsoldaten.

Plötzlich wurde er von zwei Männern in Zivil zu Boden gerissen und eine Maschinenpistole zielte auf seinen Kopf. Er hörte, wie einer der Beamten die Meldung weiter gab: „Republikflüchtiger Zivilist am Brandenburger Tor gefasst.“ Er wurde auf den Rücken gedreht und durchsucht. Einer der Männer zog Josephs Offiziersausweis hervor und stand plötzlich stramm: „Entschuldigen sie bitte, Herr Oberstleutnant, es war ein Versehen, wir haben Sie für eine Zivilperson gehalten und sie kennen ja die Anordnungen.“ In der Zwischenzeit war auch Egon zur Stelle und lachte sich krank. „Alter Freund, hier stolziert man nicht mit grauem Mantel lässig durch die Gegend, das kannst du in deinem „Niemandsland“ tun, sagte er.

Joseph wischte sich den Schmutz von den Kleidern und murmelte nur: „Wozu diese rohe Gewalt, ich hätte mich ausweisen können.“ Verstört drehte er sich um und ging.

Ich habe gleich Dienstschluss, lass uns ein Bier trinken, du Spielverderber“, rief ihm Egon nach. Joseph ging weiter, so als hätte er den Vorschlag seines Freundes nicht vernommen. Er murmelte weiter vor sich hin: “Wozu diese rohe Gewalt?“

Am gleichen Abend fuhr er zu seinen Eltern zurück. Er sprach kein Wort. Er zog sich in sein Zimmer zurück, Lucas folgte ihm.

Als seine Mutter später nach ihm sah, saß er auf dem Bett und streichelte Lukas über den Oberkopf. Er sah sie traurig an und sagte nur: „Bis heute habe ich gedacht, wir tun das Richtige“.